Zerstört die Demokratisierung die Kultur?
Über eine Kontroverse um Digitalisierung, Literaturkritik und literarische Fangemeinschaften
Zerstörung der Demokratisierung der Kultur - Szene einer Kontroverse
Im März 2025 veröffentlichte der Literatur- und Buchwissenschaftler Gerhard Lauer einen Text im Merkur, der den Titel „Die neue literarische Öffentlichkeit“ trägt. Darin plädiert er dafür, die Rolle der „illegitimen Kunst“ (Bourdieu) für die Literaturgeschichte der Gegenwart ernst zu nehmen. Gemeint sind Genres wie Young Adult, New Adult, Romantasy, Sport Romance, Dark College, also die Textsorten, die in der vielbeachteten Halle 1.2 auf der letzten Frankfurter Buchmesse die Besuchermassen anzog. Für Lauer handelt es sich um Phänomene, die einen Umbau – oder eben Strukturwandel – der literarischen Öffentlichkeit anzeigen, der neue, vor allem digitale Foren des Austauschs geschaffen hat.
Junge Leute verständigen sich demnach heute im Internet über ästhetische Vorlieben, und was dabei herauskommt, kann sich auf irritierende Art von den Praktiken etablierter Institutionen der Wertsetzung (Universität, Schule, Feuilleton, Literaturhaus) unterscheiden. Es sind diese alternativen Stilgemeinschaften, die Moritz Baßler – kulturkritisch gewendet – als Trägerschicht eines neues Midcult bestimmt hat. Lauer kritisiert diesen kritischen Ansatz und möchte das literarische Treiben der jungen Leute im Internet, in Fancommunitys und in Halle 1.2 vor allem als Schub an Teilhabe verstanden wissen, der die literarische Öffentlichkeit zwar durcheinanderbringt, allerdings auch auf eine positive Art, im Sinne einer Demokratisierung erweitert.
Auf Lauers Essay antwortete Jan Wiele mit einer Polemik in der FAZ. Während sich in der Literaturkritik seit Jahren die Hiobsbotschaften häufen würden, beteilige sich ausgerechnet ein Literaturwissenschaftler an der „Verbrämungsrhetorik“, mit der die Sorge über den nicht zu übersehenden Niedergang der Kultur besänftigt werden soll. In Lauers Analyse des Aufstiegs einer „illegitimen“ Kultur sieht Wiele eine „Elitenschelte“, die die digitale Jugendkultur gegen die bösen Gatekeeper ausspielt. So beteilige sich Lauer als ‚Fan der Fans‘ an der Erosion kultureller Werte: „Der Experte“, klagt Wiele,“ erklärt sich selbst für überflüssig, entschlossen sägend am eigenen Ast.“ Für Wiele verschleiert die Rede von der Demokratisierung nicht einen Umbau, sondern einen Abbau kultureller Institutionen - und damit der Kultur selbst.
Auf diesen Artikel hat nun wiederum Lauer auf dem Blog des Merkur geantwortet. Zunächst verteidigt er sich gegen den Vorwurf, er würde sich am Angriff auf die bedrohten Institutionen des Literaturbetriebs beteiligen. Auch er sei als Mitglied der selben Stilgemeinschaft wie Wiele natürlich der Meinung, „dass es Experten wie Literaturkritiker geben sollte, Feuilletons eine wunderbare Einrichtung sind, die man erfinden müsste, wenn es sie nicht schon gäbe, und dass es schlechte Bücher gibt, die man auch so nennen sollte.“ Gleichzeitig bekräftigt er sein Plädoyer, die neue literarische Öffentlichkeit als Ausdruck einer ästhetischen Demokratisierung zu begreifen:
„Es gibt angebbare Gründe, die gewachsene kulturelle Beteiligung gerade auch von Minderheiten positiv zu werten, auch wenn sich ‚junge Leserinnen‘ wie Rupi Kaur, Lang Leav oder Dua Lipa nicht an die Regeln des bisherigen Literaturbetriebs halten. Traditionell wird das als Massenkultur und ihr Lesestoff als Massenbuch abgewertet. Mein Essay verweist auf die Möglichkeit, das auch als Demokratisierung der kulturellen Partizipation zu verstehen.“
Die damit einhergehenden Phänomene der Fankultur können, vermerkt Lauer, durchaus bizarr, bildungsfern oder dümmlich wirken. „Aber Bildung“, schreibt er, „verläuft nicht sortiert von Robert Louis Stevenson zu Friederich Hölderlin, sondern begann schon früher mit dem Heftroman-Lesen unter Bank.“ Hier deutet sich ein kunstpädagogisches Moment an, das die Theorien der ästhetischen Demokratisierung in ihrer Geschichte fast immer begleitet hat. Die Hoffnung, dass die neuartige Popularität von Büchern, Autor:innen, Institutionen sich in die geregelten Bahnen einer aufsteigenden Bildung lenken lassen. Man beginnt mit dem Heftroman und endet bei Hölderlin. BookToker feiern Dostojewskis Weiße Nächte, was dazu führt, dass der Bridgerton-Star Luke Thompson die Novelle als Hörbuch einliest.
Lauer sieht hier eine List der Kulturgeschichte am Werk, die in Richtung Anspruch tendiert: „Dua Lipas Buch-Podcast mag vielleicht Jan Wiele nicht gefallen, aber auch ihre Buchvorstellungen tragen zum Lesen zumeist ziemlich guter Bücher bei.“ Es gehe also nicht darum, Hierarchien generell zu verteufeln, sondern auf neue Potentiale dessen zu schauen, was Lauer als „Verbürgerlichung“ der Kultur bezeichnet. Es gelte anzuerkennen, dass in diesem Prozess der Verbürgerlichung die Zunahme immer neuer Akteure und Institutionen zu einer Enthierarchisierung von Rollen geführt habe. Die etablierte Literaturkritik sei, schreibt Lauer, „deshalb nicht überflüssig, sie nimmt nur eine bescheidenere Rolle in einer vielstimmigeren Öffentlichkeit ein.“
Literaturwissenschaft des Streitens
Das literarische Leben einer Zeit ist von zahlreichen Konflikten geprägt – von erbitterten Debatten darüber, was gute und was schlechte Literatur ist, was angemessen und was unmoralisch erscheint, von Kontroversen darüber, wer überhaupt schreiben darf, aber auch darüber, wer warum Erfolg damit hat. Diese Konfliktpotentiale explodieren immer wieder in heftigen Skandalen, die durch (provokative) Transgressionen ausgelöst werden können; oder durch Fehden zwischen Akteuren des literarischen Feldes. Solche Konflikte zerren literarische Streitfragen auf die Bühne des öffentliche Diskurstheaters, wo die interaktiven Dramen aufgeführt werden, die in unzähligen Geschmacks- und Wertungskonflikten den Alltag der Rezeption bestimmen. Ästhetik ist eine Frage der Wertung, und damit zwangsläufig eine Frage der Abwertung. Wo der eine etwas schön findet, hingerissen ist, versunken und verzaubert, da ist der andere abgestoßen, angeekelt, gelangweilt oder verärgert.
Für die aktuelle Ausgabe des Internationalen Archivs für die Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) habe ich einen Aufsatz geschrieben, in dem ich einige Elemente einer “Konflikttheorie und Konfliktgeschichte der Literatur” vorstelle. Den Text kann man hier lesen. Wer keinen Zugang über die Universität hat, kann mir gerne eine Nachricht schicken, dann sende ich ein pdf.
Ich bin über Wieles Satz gestolpert, dass "der Experte" "sich selbst für überflüssig erklärt" ja, "am eigenen Ast“ sägt. Zeigt sich in dieser Kontroverse vielleicht auch, dass sich dank des hier beschriebenen Strukturwandels ein Riss durch die Kategorie der Expertise auftut? Denn ob "der Experte" (sic) vom Geschmacksurteil abhängt, ja, ob ein Begriff der "hohen" Literatur der "eigene" Ast ist, unterscheidet sich ja ziemlich erheblich, je nachdem ob der/die Expert:in LitWiss betreibt oder fürs Feuilleton schreibt. Literaturwissenschaftler, zumal historisch arbeitende, haben ja schon lange die Fancommunities und Halle 1.2 vergangener Epochen mit in ihre Analyse mit einbezogen. Und Fancommunities sind literatursoziologisch eine absolute Goldgrube ... für den Literaturwissenschaftler. Fürs Feuilleton sind sie, auf irgendeine Weise, Konkurrenz. Vielleicht zerbricht hier eine Schicksalsgemeinschaft zwischen Literaturwissenschaft und Kulturbetrieb, die lange automatisch wirkte, aber eigentlich kontingent war...