War Roald Dahl ein Arschloch?
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Grausame Kinderbücher
Als der Verlag Knopf nach einer konfliktreichen Zusammenarbeit das Verhältnis mit seinem Erfolgsautor Roald Dahl aufkündigte, tanzten die Mitarbeiter angeblich auf den Tischen vor Freude. Dahl muss nach allem, was ich in den letzten Monaten gelesen habe, ein ausnehmend unsympathischer Mensch gewesen sein - narzisstisch, selbstbezogen, grausam; dazu ein Antisemit. In gewisser Weise passt das zu dem Unbehagen, das ich als Kind bei der Rezeption von Dahl-Erzählungen immer verspürt habe. Groteske Geschichten, die von Körperhumor und Körperhorror lebten, waren etwas, was mich eher abgestoßen hat. Meine Geschmack ging eher in Richtung “Realismus” und “Geschichte” (“Die Söhne der Großen Bärin” oder DTV Juniors Versionen von König Arthus und Robin Hood). Erst in ihrer weichgespülten Version als die Dursleys in “Harry Potter” konnte ich eine groteske Familie wie die Wormwoods aus Dahls “Matilda” wieder ertragen.
Zu Dahl ist gerade eine neue Biographie erschienen (“Roald Dahl. Teller of the Unexpected” von Matthew Dennison) und das bedeutet in der englischsprachigen Welt, dass lange, lesenswerte Review-Essays veröffentlicht werden. Empfehlenswert ist etwas dieser Text von Merve Emre im New York Review of Books (man findet den ganzen Text im 54books-Discord) oder dieser Artikel im London Review of Books. Ein Gespräch mit dem Autor dieses Artikels kann man auch im sehr empfehlenswerten Podcast des LRB nachhören.
Ich finde Dahl und seine Rezeption besonders interessant, weil ich viele kluge Menschen kenne, die große Fans waren oder sind und sich die Bücher, wenn ich das recht sehe, unter Kindern immer noch großer Beliebtheit erfreuen. Gerade die Dinge, die man selbst nicht schätzen kann, die aber von einem großen Teil der Kultur geliebt werden, geben manchmal die interessantesten Rätsel auf. Die Liebe der anderen zu ästhetischen Artefakten kann irritierend wirken, ist aber auf einer prinzipiellen Ebene immer gerechtfertigt und deshalb kulturwissenschaftlich interessant.
Bei Netflix wurde im Winter letzten Jahres auch eine Verfilmung des “Matilda”-Musicals veröffentlicht, in der Emma Thompson die berühmte Schurkenfigur Trunchbull spielt. Gerade Trunchbull hat mir als Kind in der Verfilmung von 1996 große Angst eingejagt - eine Figur von absurder Grausamkeit (Die Kuchenszene!). Es handelt sich, wie so oft bei Dahl, um eine Grausamkeit, die auch durch klare körperliche Merkmale markiert ist.
Für Kinder erscheinen Autoritäten natürlich oft grotesk, gerade, weil sie wenig Möglichkeiten haben, Institutionen zu durchschauen und sich gegen deren Macht zur Wehr zu setzen. Eine brutale Schulleiterin, die sich riesenhaft vor den Schülern auftürmt, ist von der Erfahrung arbiträrer und furchteinflößender Macht wahrscheinlich gar nicht so weit entfernt. So erklärt sich sicher auch der anhaltende Erfolg von Dahls dunklen Fantasien. Allerdings zeigen sich, gerade an einer Figur wie Trunchbull auch die politischen und ethischen Probleme seiner Bücher.
In einem Essay für “Slate” hat Dan Kois dieser Figur einen lesenswerten Deep-Dive gewidmet. Die Figur war von Anfang an als misogyne Karikatur angelegt, die vor allem durch ihre männlichen Züge abgewertet wurde. Das wird noch verstärkt durch die Figur der fragilen Miss Honey, die in jeder Hinsicht als (auch weibliches) Gegenstück gegen Trunchbull aufgebaut wird. Die Tatsache, dass Trunchbull im Musical von einem Mann gespielt wurde, hat ebenfalls für Kritik gesorgt. Es lohnt sich in jedem Fall Kois Text zu lesen, auch wenn ich der Figur nach wie vor nichts Positives abgewinnen kann.
Ein guter Webcomic
“True Crime” und kein Ende
Der Tiefpunkt des “True Crime”-Booms scheint noch lange nicht erreicht zu sein. Schon im letzten Newsletter habe ich über die wachsende Kritik an dem Genre geschrieben, das einerseits auf dem Höhepunkt seines Erfolgs zu stehen scheint, andererseits aber auch immer mehr kritisiert wird. In einem entgeisterten Text im “Spiegel” wurde gerade noch einmal die Frage gestellt: “Braucht man Serien wie ‘Dahmer’, die tatsächlich geschehene, bestialische Taten fiktionalisieren und zu Unterhaltungszwecken ausstellen?” Einen absoluten Abgrund hat nun aber der User @flemmyflamingo aufgetan. Man möchte wirklich einen “True Crime”-Podcast über den Pitch-Prozess hören, der aufschlüsselt, wie so eine Idee sich durchsetzen kann.



Ein sehr guter Thread, den ich seltsamerweise übersehen hatte
Dieser liebevolle und super detailreiche Thread parodiert wirklich perfekt die aktuelle Debatten- und Medienlandschaft im deutschsprachigen Raum. Unbedingt lesen.

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Die gute Tweets
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