Wird sind alle kulturelle Gaffer
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt. Wer sich für Streitereien und Debatten über Bücher, Filme, Musik, Serien und viele andere Dinge, die uns entzweien, interessiert, der ist hier an der richtigen Stelle.
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Eine kurze Bilanz
Dies ist nun die 10. Ausgabe des wöchentlichen Newsletters "Kultur & Kontroverse" und ich denke, es ist Zeit, eine kurze Bilanz zu ziehen. Zehn Ausgaben, das sind bereits Dutzende von Streitereien, Fehden und Denkwürdigkeiten, außerdem dreißig mal die guten Texte und noch mehr gute Tweets. Viel Freude und Ekel hat auch die Bonusausgabe zu den schlechtesten Sexszenen aus dem neuen Roman von Jonathan Franzen erzeugt. Oft habe ich im Laufe der Woche so viel Material zusammengeschleppt, das ich die Hälfte davon wieder wegschmeißen muss.
Keine Sorge, das wird kein Newsletter, der irgendwann nur noch um sich selbst kreist - gleich geht es wieder um Eierwürfe und Jackenklau. Die Arbeit an dem Newsletter macht großen Spaß, der sich hoffentlich (denn das ist die Hauptsache) auch auf die Leser*innen überträgt. Von denen gibt es inzwischen ein paar, was mich freut, aber ich hoffe natürlich, es werden noch mehr. Wie wächst ein Newsletter, wenn man nicht schon für etwas anderes bekannt ist? Die Antwort lautet naheliegender Weise: durch Weiterempfehlung. Besonders helfen Hinweise in den sozialen Medien. Wenn ihr also mir oder anderen Autor*innen von Newslettern einen großen Gefallen tun wollt, empfehlt sie weiter. Wer auf der Suche nach guten Newslettern ist, wird in diesem Artikel von Kathrin Passig in der FR fündig.
Ein weiteres Thema, dass vor allem im deutschen Kulturbetrieb immer noch als etwas unfein gilt, ist Geld. Ich habe an anderer Stelle darüber geschrieben, dass die finanzielle Infrastruktur für geistige Arbeit in den letzten 20 Jahren zusammengebrochen ist. Das hat mit dem Verlust von Werbeeinnahmen durch die Digitalisierung zu tun. Newsletter und andere alternative Publikationsplattformen sollen Möglichkeiten sein, neue Finanzierungsmöglichkeiten für geistige Arbeit aufzubauen. Wie gut das klappt, lässt sich noch nicht absehen. Ich bin zum Beispiel sehr gespannt, wie das Experiment ausgehen wird, dass Salman Rushdi seinen neuen Roman per Newsletter veröffentlicht.
Aber vor allem interessieren mich die Folgen des Formats für den Kulturjournalismus. Anne Helen Petersen lebt inzwischen von den Einkünften ihren Newsletters "Culture Study" und einer meiner Lieblingsnewsletter, "Garbage Day", ist inzwischen so stark gewachsen, dass der Betreiber zusätzliche Menschen anstellen kann. Dann wiederum ist der Journalist Charlie Warzel gerade mit seinem Newsletter, mit dem er sich vor einem Jahr unabhängig machen wollte, wieder zurück in den sicheren Hafen einer großen Publikation gezogen. Sein Abschiedstext ist sehr interessant, was die Funktionsweise und Tragfähigkeit von Newslettern angeht. Informativ ist auch diese Bilanz, die Casey Newton, der einen erfolgreichen Tech-Newsletter betreibt, und dafür seinen Job gekündigt hatte, nach einem Jahr vorgelegt hat.
Diese Newsletter haben natürlich ein größeres Publikum und eine ganz andere Reichweite als deutsche Publikationen. Dazu kommt, dass immer wieder von einer knappen Zehnprozentquoten bezahlender Abonennt*innen berichtet wird. Das sind Quoten, von denen deutsche Newsletter nur träumen können. Die Bereitschaft, für digitale Inhalte zu bezahlen, erscheint im deutschen Sprachraum wenig entwickelt. Warum das so ist, weiß ich nicht, und ich möchte hier auch keine Strafpredigt halten. Das Problem, dass man plötzlich von einer unübersichtlichen Vielzahl von Abos umstellt ist, kenne ich selbst. Besonders ärgerlich kann es dann sein, dass man den Eindruck hat, Menschen oder Institutionen im Stich zu lassen, wenn man ein Abo wieder kündigt. Die Rhetorik digitaler Bezahlmodelle spricht ja oft von "unterstützen" und eben nicht "bezahlen" und das führt zu einem unterschwelligen moralischen Druck, dem man sich ungern aussetzen möchte. Am Ende soll Content das Leben der Rezipient*innen besser machen. Es handelt sich um ein Produkt wie jedes andere auch.
Was das alles nun konkret für diesen und andere Newsletter bedeutet, kann ich nicht absehen. Gutlaufende digitale Publikationen werden irgendwann mit Paywall und Payfence experimentieren, wie das etablierte Medien ja auch schon länger erfolgreich betreiben. Gleichzeitig gibt es immer noch die gar nicht mal so utopische Utopie eines Solidaritätsmodells, in dem Menschen, die es sich leisten können, bezahlen, damit der Content für andere frei zugänglich bleibt. So wurde z.B. der "Guardian" für das digitale Zeitalter fit gemacht. Diese Modell ist auch in der Hinsicht produktiv, dass es die diskursive Funktion von Texten erhält, will sagen: Über frei zugängliche Texte wird mehr öffentlich diskutiert. Das bringt mich zum letzten Teil dieser Bilanz, nämlich der Interaktivität des Newsletters. Ich habe mich sehr gefreut, dass Leser*innen auf Twitter kommentiert und diskutiert, mir aber auch Mails geschrieben haben, mit Hinweisen, Ergänzungen und Kritik. Denn das ist für ein solches Format die beste Form der Resonanz.
Wir sind alle Gaffer
Apropos Resonanz. Letzte Woche ging es um True Crime und Habermas und diese Woche erfahre ich auf Twitter, dass sich Thomas Fischer, Publizist und Bundesrichter a.D. im öffentlich rechtlichen Podcast "Sprechen wir über Mord" despektierlich über das Geschnatter in den sozialen Medien geäußert hat. Unter anderem geht es gleich am Anfang der aktuellen Folge darum, dass Menschen dort unberufen über Habermas diskutieren. Ich weiß, das gehört zu den Pathologien der Always-Online Generation, aber ich fühle mich irgendwie angesprochen, denn so viele Menschen haben in letzter Zeit auf Twitter nicht über Habermas diskutiert. Dafür ist das Thema vielleicht einfach zu langweilig.
Thomas Fischer, Bundesrichter a.D., ist in der Vergangenheit durch lange meinungsstarke Kolumnen aufgefallen, die offenbar zahlreiche Fans haben und die ich vor allem deshalb faszinierend finde, weil sie (aus meiner Sicht) vollkommen unverständlich sind. In diesem Text etwa drängt sich der Eindruck auf, die Sätze passen allein semantisch nicht zueinander. Aber der Reiz dieser Artikel liegt vielleicht eher in der Atomsphäre intellektueller Aggression, mit der sich eine bestimmte Leserschaft gerne identifiziert? Who knows. (Thomas Fischer, Bundesrichter a.D., ist außerdem in diese unangenehme Geschichte verwickelt, aber auch darum soll es hier nicht gehen - ich bin Literaturwissenschaftler und kein Jurist.)
Was mich beim Hören der Folge "Reden wir über Mord", die mit der strengen Abmahnung der Oberflächlichkeit in den sozialen Medien beginnt, jedenfalls sehr amüsiert hat, ist die Tatsache, dass sie den Titel "Der Schwertmörder von Stuttgart" trägt. Es sind diese Formen kultureller Koinzidenz, für die man morgens die Nase in den Diskurs steckt. Während Thomas Fischer, Bundesrichter a.D., also über die frivolen sozialen Medien schimpft, versucht der Moderator Holger Schmidt ihn immer wieder zum eigentlichen Thema zu führen: "Wir wollen gedanklich zu einem Schwertmörder kommen..." Aber erst gibt es noch ein wenig Abwertung des bildungsfernen Diskurses im Internet, bevor es dann mit einiger Erleichterung heißt: "Gut, dann machen wir uns jetzt auf den Weg zum Stuttgarter Schwertmörder."
Es ist gegen die narrative Freude an Schwertmördern und ähnlichem Pulp natürlich grundsätzlich nichts einzuwenden. Aber die Art und Weise, wie hier selbstvergessen im öffentlich rechtlichen Rundfunk erst über die Oberflächlichkeit nicht-etablierter Diskursformen geschimpft wird, um dann begeistert den Fall eines Schwertmörders breitzutreten, ist in jeder Hinsicht repräsentativ für die kulturelle Doppelmoral der Gegenwart. Später in der Folge geht es dann noch um das Problem der Gaffer, die die Tat mit dem Handy gefilmt haben. Und es geht um die Doppelmoral der Bildzeitung, die sich über diese Gaffer ereifert und doch selbst das größte Gaffermedium ist. An dieser Stelle kann man als Zuhörer die Tragik fast körperlich empfinden, wie knapp das Podcast-Format "Sprechen wir über Mord" an der Selbsterkenntnis vorbeigeschrammt ist.
Dann wiederum ist kulturelles Gaffen natürlich auch ein wichtiges Strukturmerkmal dieses Newsletters. Aber das wird auch nicht geleugnet.
Endlich ein Kohl-Musical
Mich treibt schon seit längerem eine Obsession mit dem Leben und Schaffen des Altkanzlers Helmut Kohl um, der ein in jeder Hinsicht herausforderndes Rätsel der Kulturgeschichte darstellt. Als Einstieg in die besten Kohl-Momente empfehle ich folgende Videos: Kohl fordert die Nennung seines Doktortitels ("Für Sie bin ich der Dr. Kohl"), Kohl beschwert sich über einen Stuhl und Kohl beleidigt Spiegel-Journalisten. Über den vielleicht wichtigsten Kohlmoment wurde nun in Jan Böhmermanns Neo Magazin Royale das Minimusical "Der Eierwurf von Halle" veröffentlicht.
Kohl war 1991 zu einem Antrittsbesuch nach Halle gereist. Damals war der erste Frühling der Einheit abgeflaut, den Menschen wurden die drohenden sozialen Folgen der wirtschaftlichen Restrukturierung der neuen Bundesländer bewusst. Und dann flogen die Eier und Kohl stürzte sich vollkommen entfesselt in die Menge, um Ohrfeigen zu verteilen. Es wirkte deutlich so, als würde der Kanzler der BRD stellvertretend für den genervten Westen jetzt alle unbotsamen Ostdeutschen verprügeln wollen. Oder vielleicht sprach aus ihm auch nur das zutiefst menschliche Bedürfnis, nicht mit Eiern beworfen zu werden.
Wie dem auch sei, das Musical ist ziemlich lustig und enthält einige Anspielungen auf die Idiosynkrasie des Herrn Dr. Kohl, unter anderem wird ihm ein Bündel Geld gereicht, an dem er genussvoll riecht und aufzeufzt: "Ah, Bimbes" - eine Referenz auf einen der zahlreichen CDU-Spendenskandale, der aufdeckte, dass Kohl und seine Handlanger mit einer großen Gießkanne unappetitliches Geld über die Funktionsträger der BRD ausgegossen hatten. Eine Doku mit dem Titel "Bimbes" bietet erschreckende Einblicke, nicht nur in die Funktionsweise des System Kohls, sondern auch in die spezifisch graue Ästhetik der späten Bundesrepublik. Am Besten schaut man erst die Doku und dann das Musical.
Ein literarischer Jackendiebstahl?
Irgendwo auf Twitter kursierte die Schreckensnachricht, dass ein neuer Roman von Michel Houellebecq im Anmarsch sei, was ja schon schlimm genug wäre, aber anscheinend handelt es sich auch noch um einen Wälzer von 700 Seiten. So bleibt uns einfach nichts erspart, auch nicht die Tatsache, dass der Autor in dieser Meldung als "umstrittenen Star-Denker" bezeichnet wird. Beim Herumgoogeln auf der Suche nach weiteren schlimmen Infos bin ich allerdings auf diese herrliche Geschichte gestoßen, die mir um ein Haar entgangen wäre. Es geht nämlich die Frage um, ob Houellebecq beim Besuch im Vierkanthof Thomas Bernhards dessen Jacke - quasi eine literaturgeschichtliche Reliquie - hat mitgehen lassen. Über den angeblichen Jackenklau und wie es sich damit verhält, kann man in dieser Notiz, die den Titel "Hat Houellebecq Thomas Bernhards Jacke geklaut?" alles erfahren.
Die guten Texte
Eine Verlegerin von Erotika steht in der Kritik, ihre Autorinnen ausgebeutet zu haben. Der Artikel bietet spannende Einblicke in einen wichtigen Bereich des literarischen Feldes, der noch viel zu wenig erforscht wurde. Offenbar nehmen immer mehr Männer zwischen 20 und 30 Viagra. Was das mit dem Status von Männlichkeit in der Gegegenwart und viralem Marketing zu tun hat, erfährt man hier. Und: Ein Artikel über ein Grab in Los Angeles, das in zahlreichen Filmen vorkommt. Anscheinend werden Grabszenen oft nicht im Studio, sondern auf Friedhöfen gedreht. Dazu der entgeisterte Kommentar der Autorin: "Wenn Sie, wie ich, dachten, dass das Filmen von komischen Szenen inmitten eines Leichenfeldes eine ethische Grenze überschreitet, dann weiß ich nicht, was wir erwartet haben."