Wie wenig ist ein Song wirklich wert?
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt.
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0,37 Cent
Ich lese gerade das ziemlich spannende Buch “Chokepoint Capitalism” von Rebecca Giblin und Cory Doctorow, das sich mit dem Prozess der Monopolisierung beschäftigt, der unter anderem die Kreativ-Industrie abwürgt. Amazon beherrscht den Buchmarkt, und nutzt seine Macht, um Verlagen immer mehr von ihren Einkünften abzunehmen; Google und Facebook saugen den Großteil der Werbebeinnahmen ein, der früher die Zeitungen finanziert hat; und die großen Label eignen sich zusammen mit den Streaming-Diensten noch den letzten Gewinn an, den Musiker:innen mit ihrer Musik überhaupt noch machen konnten.
In diesem Zusammenhang wird die Cellistin Zoë Keating zitiert, die immer wieder offen gelegt hat, wie mager die Einkünfte des Streamings wirklich sind. Das hatte man bereits geahnt, allerdings erscheint es in seiner Konkretheit noch einmal erschreckender: Anfang 2014 etwa veröffentlichte Keating die Bilanz ihrer Verdienste des letzten Jahres in einem Google Doc, das man sich hier anschauen kann.
Über 400.000 Streams auf Spotify ergaben demnach Einnahmen von gerade einmal 1.750 Dollar. Noch düsterer sieht es auf Youtube aus. Hier stehen fast 2 Millionen Streams Einnahmen von 1250 Dollar gegenüber. Interessant erscheint auch, dass zumindest 2013 noch Geld mit digitalen Verkäufen zu verdienen war. 33.000 auf iTune, Amazon und Bandcamp verkaufte Singels spielten 33.000 Dollar ein. Keating veröffentlicht ihre Musik selbstständig, das heißt, die Zahlen bezeichnen, was sie als Künstlerin direkt bekommt (ohne einen Anteil für das Label). Diese Zahlen haben sich seit 2019 offenbar kaum verändert. Am 21. November 2019 postete Keating einen Tweet, in dem sie das Honorar für einen Stream auf ca. 0.37 Cents bezifferte.

Der Wert von Kunst in der digitalen Gegenwart und die Frage, wer darüber entscheiden kann, was diesen Wert ausmacht, ist etwas, was mich sehr interessiert. (Über Literatur und Geld habe ich hier bereits geschrieben, über Printmedien und Geld hier.) Die Digitalisierung hat in dieser Hinsicht eine ganze Reihe neuer und extrem komplexer kultursoziologischer Fragen aufgeworfen. Angenehmerweise handelt es sich aber bei "Chokepoint Capitalism" aber nicht um ein Anti-Digitalisierungsbuch. Giblin und Doctorow zeigen etwa, dass das Internet die Ausbeutung im Musikgeschäft nicht hervorgebracht hat. Im Gegenteil: Die neuen Möglichkeiten der Distribution haben auch dazu geführt, dass die extrem ungleichen Machtverhältnisse, unter denen die Musiker:innen früher gelitten haben, etwas aufgebrochen werden konnten.
Diese alten Machtverhältnisse wirken allerdings in die digitale Gegenwart weiter, etwa dann, wenn große Labels sich durch ihre erfolgreiche Backlist (die durch die alten erpresserischen Verträge extrem lukrativ ist) mehr Marktmacht sichern, oder wenn eine Streaming-Plattform wie Spotify eine Winner-takes-all-Ökonomie erzeugt, die wiederum die große Labels bevorzugt. In “Chokepoint Capitalism” wird eine Statistik zitiert, nach der 43.000 von den vielen Millionen Künstler:innen auf Spotify für 90 Prozent aller Streams verantwortlich sind. Zudem gibt es zwischen den großen Labels und Spotify perfide Absprachen, bei denen große Vorschüsse oder Werbeoptionen für Rechte bezahlt werden, die an die Künstler:innen nicht weitergegeben werden müssen.
Diese Ökonomie der Monopolisierung ist an vielen Orten der Gegenwartskultur zu beobachten. Gleichzeitig bietet die Digitalisierung mit ihrer publizistischen Infrastruktur und den neuen Möglichkeiten des Austauschs auch Chancen, Monopolisierung anzugreifen. Zahlen, wie die von Keating genannten, helfen dabei, diese systemischen Probleme konkret zu machen und besser zu verstehen.
Vergriffen
Dazu passt, dass die Autorin Anne Weber, die 2020 mit ihrem Buch "Annette, ein Heldinnenepos" den deutschen Buchpreis gewonnen hat, in einem öffentlichen Post auf Facebook in einer verärgerten Stellungnahme darüber informiert, dass ihr alter Verlag, Fischer, ihre Bücher nach der Preisvergabe nie neu aufgelegt hat und diese damit weiterhin als vergriffen gelten. Ein solches Verhalten gegenüber von Schriftsteller:innen, die nicht mehr im Verlag sind, allerdings dort noch ihr Werk haben, erscheint schon ziemlich empörend.
Ein gutes Webcomic
Flame Wars um 1800
Über diesen Abschnitt aus einer Rezension des vielbesprochenen Buches “Magnificent Rebels” von Andrea Wulf über die Vertreter:innen der Frühromantik musste ich ziemlich schmunzeln. Es wird ja seit einigen Jahren viel darüber geklagt, wie die Sozialen Medien die Gesellschaft entzweien und den ständigen Zwist als die eigentliche Kommunikationsform unserer Zeit etabliert haben. Shitstorms, Outcalls, Fehden und Infighting charakterisieren dieses Schreckensbild einer intellektuellen Öffentlichkeit, die nichts anderes zustande bringt als ewigen Knatsch. Und dann erfährt man über einen Winter im Kreis der Frühromantik um 1800 folgendes:
“Fritz [Schlegel] schimpfte auf Dorothea, weil sie den Sinn seiner neuen Gedichte nicht verstand. Er sprach auch nicht mehr mit Schelling und Caroline, weil er sich darüber ärgerte (was August Wilhelm nicht tat), dass die beiden öffentlich ihre Affäre lebten. Dorothea, die um Fritz' willen nicht mehr auf Caroline Rücksicht nehmen musste, erklärte sie für ‘hart wie Stein’. Novalis selbst begann, sich gegen Caroline zu wenden, da er ihr Verhalten als eine Bedrohung für die geliebte Gemeinschaft ansah. Als Fichte aus Berlin zu Besuch kam, stellte er fest, dass alle auch auf ihn wütend waren, weil er mit den Herausgebern der 'Allgemeinen Literatur-Zeitung' nicht gebrochen hatte. Als er erfuhr, dass die Schlegels Schelling gesagt hatten, er habe ihn beleidigt, entschied er, dass sie "Lügner und hartherzige Verräter" seien. (Fichte und Schelling gerieten bald selbst in einen erbitterten Streit.) Tieck, der inzwischen an Gicht erkrankt war, hielt Dorothea für ein "Ungeheuer", Caroline für einen 'Hermaphroditen' und den Haushalt für ‘einen großen Hof voller Schweine’. Es war der Winter des Hasses.”
Auf der Suche nach dem verlorenen Humor
Seit Jahren wird immer wieder darüber geklagt, die Gesellschaft sei aufgrund politischer Korrektheit humorlos geworden. Jedes Mal, wenn ein Comedian für verletzende Witze in die Kritik gerät, wird dieser Topos der Kulturkritik wieder ausgepackt. Dann heißt es, die jungen Leute könnten keine Witze mehr verstehen, seien Schneeflocken, die unter jedem kleinen Scherz zusammenbrechen würden etc. Von James Acaster gibt es dazu eine gute Standup-Nummer, die die spezifische Mischung aus Aggression und Wehleidigkeit, die dieser Kritik zugrunde liegt, gut auf den Punkt bringt. In den letzten Wochen wurde nun außerdem dieser brillante Thread viel geteilt, der durch das Jahrhundert Artikel gesammelt hat, die alle die gleiche Klage anstimmen:
Die guten Texte
Daniel Stähr schreibt darüber, warum große heldenhafte Spenden oft nur große ruhmlose Steuerersparnis sind, und warum das ein Problem für die Gesellschaft darstellt.
Noor Qasim schreibt in "The Drift" über die Millennial Sex Novel und was sie mit dem Werk von Arnie Ernaux zu tun hat.
Charlie Warzel trägt verschiedene Szenarien zusammen, wie Elon Musk nach seiner Übernahme, die Plattform Twitter tatsächlich zerstören könnte.