Wie riecht eine Plattform, die verrottet?
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt. Wer sich für Streitereien und Debatten über Bücher, Filme, Musik, Serien und viele andere Dinge, die uns entzweien, interessiert, der ist hier an der richtigen Stelle.
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Wie riecht eine Plattform, die verrottet?
Letzte Woche habe ich darüber geschrieben, wie sich der kulturelle Wandel hin zu einer feindseligen Sichtweise auf die Sozialen Medien wieder bemerkbar gemacht hat. Diese kulturellen Probleme gehen gerade auch mit konkreten Schwierigkeiten einher, die die großen Plattformen, vor allem Facebook, haben. Eine Serie des Wall Street Journals, die als die "Facebook Papers" verbreitet werden, zeigt, wie groß die internen Probleme der Firma sind. Offenbar ist den Verantwortlichen vollkommen bewusst, welche toxischen Potentiale ihre Plattform bietet, dass ihre Produkte süchtig machen und dass ihr Motor politische Wut ist, und so wurden auch die "Facebook Papers" zu Munition im Kampf gegen eine allem Anschein nach unbezähmbare und verantwortungslose Plattform verwendet. Kevin Roos hatte allerdings in der New York Times noch eine andere Interpretation, die ich nicht weniger plausibel findet - die "Facebook Papers" zeigen ein Unternehmen im Niedergang:
"Ich spreche von einem langsamen, stetigen Niedergang, den jeder erkennen kann, der schon einmal ein sterbendes Unternehmen aus der Nähe gesehen hat. Es ist eine Wolke existenziellen Schreckens, die über einem Unternehmen hängt, dessen beste Tage hinter ihm liegen, die alle Prioritäten des Managements und alle Produktentscheidungen beeinflusst und zu immer verzweifelteren Versuchen führt, einen Ausweg zu finden. Diese Art des Niedergangs ist von außen nicht unbedingt sichtbar, aber Insider sehen jeden Tag hundert kleine, beunruhigende Anzeichen dafür - nutzerfeindliche Wachstumshacks, frenetische Umschichtungen, Paranoia der Führungskräfte, die allmähliche Abwanderung talentierter Kollegen."
Es gibt eine bestimmte Vorstellung der Internet-Dekadenz. Inzwischen kursieren bereits Verschwörungstheorien, das Internet sei eigentlich tot, die meisten User*innen Bots. Eine andere handfeste Erscheinungsformen des digitalen Niedergangs ist der sogenannten "link rot" (Danke an Berit Glanz für den Hinweis!). Aber was bedeutet es, wenn eine Plattform verrottet? In meinem Umfeld gilt Facebook schon lange als die peinliche Plattform, fast muss man sich rechtfertigen, noch dort zu sein. Warum genau das so ist, ist schwer zu sagen. Die ethischen Probleme, die von Facebook erzeugt werden, gelten ja auch für alle anderen Plattformen, und es ist noch einmal etwas anderes als der habituelle Amazon-Hass. Eher spricht man über Facebook mit dem leicht nostalgisch-schadenfrohen Tonfall, mit dem man über eine Kneipe spricht, die uncool geworden ist, und die jetzt mit allen Mitteln versucht, jüngeren Kund*innen hinterherzulaufen. Roose deutet das so: "Die Wahrheit ist, dass es bei Facebook weniger darum geht, einen neuen Markt zu dominieren, als vielmehr darum, der Irrelevanz zu entgehen."
Mit besonderer Härte zeigte sich dieses Problem während des stundenlangen Blackouts am Montag vor einer Woche. Zahlreiche User*innen auf Twitter feierten einen regelrechten Karneval der Schadenfreude. Facebook wurde dabei vor allem als Boomer-Plattform beschimpft, wo sich Impfgegner und Minions-Memes verbreitende Tanten aufhalten (auch ich habe mitgemacht).
Hier doch nichts über den Nobelpreis
Hier sollte eigentlich eine längere bissige Analyse der mal wieder äußerst gequälten Reaktion auf die Verleihung des Nobelpreises für Literatur stehen. Ich hatte alles zusammen, die Links, die Zitate etc., aber dann habe ich in mein Herz geschaut, und festgestellt: I just do not care. Es gehört zu den Problemen des Feuilletons, dass es denkt, es müsste sich in Sachen Aktualität wie die Tagespresse verhalten, was natürlich schwierig wird, wenn man die Bücher, um die es geht, nicht gelesen hat. Dass dann trotzdem reagiert wird, und am besten noch beleidigt oder spöttisch, hat mehr mit dem Selbstverständnis des Ressorts zu tun, als mit dem Preis oder den Ausgezeichneten. Im besten Fall ist er ein Anlass, um hierzulande unbekannte Autor*innen kennenzulernen. Das geht dann aber eben nicht über Nacht. Am Ende ist der Preis wie alle Preise eben vor allem eine Maschine, die den immer gleichen literarischen Diskurs erzeugt.
Anatomie der Internetsucht
Letzte Woche ging es auch um den therapeutischen Diskurs um die Sozialen Medien, der zum Beispiel Vergleiche mit Alkohol bemüht. Diese Woche habe ich einen sehr lesenswerten Essay im New York Review of Books gelesen, der die Besprechung einer Neuausgabe von Robert Burtons The Anatomy of Melancholy (1621) mit einer Analyse einer neuen Geschichte der Depression und mehreren Memoiren von Betroffenen verknüpft (Paywall). Bei der Lektüre habe ich gelernt, dass es inzwischen für die psychischen Probleme mit Sozialen Medien ein eigenes Krankheitsbild gibt:
„Wenn Depressionen durch ein chemisches Ungleichgewicht verursacht werden, wodurch wird dieses Ungleichgewicht verursacht? Vererbung kann ebenso dazu beitragen wie Drogenmissbrauch. Styron machte für seine eigene Episode die übermäßige Einnahme des Schlafmittels Halcion in Verbindung mit einem Alkoholentzug verantwortlich. Zu den traditionell missbrauchten Substanzen - Alkohol und Drogen - könnten wir Twitter, Facebook und Instagram hinzufügen. Der übermäßige Genuss dieser Dinge hat inzwischen einen eigenen Namen: ‚problematische Nutzung sozialer Medien‘ oder PSMU.“
Dazu passt auch dieser kurze Beitrag auf Deutschlandfunk Nova, wo man erfahren kann, dass die Sucht nach Kryptowährung und dem Handel damit inzwischen wohl ein echtes Problem darstellt. Eine Klinik in Schottland, die eine Behandlung dieses Problems anbietet, wird seit einiger Zeit offenbar regelrecht überrannt.
Ein schrecklich ehrlicher Text
In der ersten Ausgabe dieses Newsletters ging es um den Begriff der „Wohlfühliteratur“ und welche Assoziationen und Konflikte damit verbunden sind. Jetzt hat mich Antje Schmidt (deren Essay über den Diskurs „zärtlicher“ Autorinnenschaft ich hier noch einmal nachdrücklich empfehlen möchte) auf einen Text hingewiesen, in dem das Ressentiment, das mit dem Begriff eben auch verbunden sein kann, einen beim Lesen regelrecht anspringt. Aber zunächst einmal eine Preisfrage: Aus welchem Jahr stammt dieses Zitat?
„Nicht nur männlich besetzte Themen wie Krieg und Gewalt fallen unter das weibliche Artikulationsverbot, auch formale Experimente und schwer verständliche Texte haben keine Chance gegen eine von Frauen produzierte Wohlfühl-Literatur, die nett und flüssig geschrieben, aber an Harmlosigkeit kaum zu überbieten ist.“
Nein, es handelt sich weder um das Jahr 1956 oder 1973, denen man einen solchen Ausfall kontextuell zugetraut hätte. Der Text des Schriftstellers Hans-Christoph Buch stammt aus dem Jahr 2003 und ist von geradezu rührender Ehrlichkeit, was die Verbindung einer bestimmten Vorstellung von Literatur und einer bestimmten Vorstellung von Gender betrifft. Buch zeigt sich zunächst hoch beleidigt, dass Antje Vollmer, damals Vizepräsidentin des Bundestags (und immerhin „eine kluge Frau“, nämlich: „mit dem Herausgeber der Anderen Bibliothek, Hans Magnus Enzensberger, befreundet“) seine Bücher nicht gelesen hat. Von da aus ist es ein kurzer Weg zu behaupten, der Kanon klassischer Literatur sei nun einmal von Männern geschrieben und seine Werte würden jetzt durch schreibende Frauen bedroht. Ein wirklich eindrücklicher Text, der neben vielen anderen eigentümlichen Aussagen auch diesen zauberhaften Satz enthält: „Aber auch das ist nicht wirklich neu, denn lesbisch oder schwul zu sein, ist derzeit ‚in‘.“ Der Text war damals, wie man hier nachlesen kann, Teil einer Debatte. Heute wirkt er wie ein Denkmal dafür, dass keine Debatte jemals aufhört.
Die guten Texte
Nun aber doch: Wer sich über den aktuellen Literaturnobelpreisträger informieren möchte, für den hat Freund und Kollege Marcel Inhoff einen kenntnisreichen Text geschrieben. Ein Diana-Musical ist bei Netflix erschienen und offenbar dermaßen schlecht, dass selbst Hate-Watching sich nicht empfiehlt. Bei Republik kann man einen spannenden Text über Armin Mohler, den Erfinder des Begriffs "Konservative Revolution", und sein trostloses Erbe lesen.