Wer hat den Nobelpreis verloren?
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt.
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Der Verlierer des Nobelpreises
Am 6. Oktober wurde bekannt gegeben, dass der französischen Autorin Annie Ernaux den Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde. Allerdings wurde auf Twitter auch recht schnell klar, wer der Verlierer dieses Nobelpreises war. Bald kursierte nämlich ein Ausschnitt aus einem Interview mit Denis Scheck, wo er rätselhafterweise die erotischen Vorzüge der Autorin thematisierte und auch noch Pippi Langstrumpf ins Spiel brachte.


Der Ausschnitt wurde viel verbreitet und kritisiert und führte zu einem direkten Backlash, der an die Aktion #dichterdran erinnerte. im Sommer 2019 hatten Autorinnen in den Sozialen Medien begonnen, über Autoren so zu schreiben, wie sich Schriftstellerinnen das schon lange gefallen lassen müssen. Auslöser war ein Rezensent gewesen, der Sally Rooney als „aufgeschrecktes Reh mit sinnlichen Lippen“ beschrieb. Die Tweets unter #dichterdran betrieben eine Inversion solcher Wertungskonventionen, indem sie berühmte Dichter wie Hemingway oder Arthur Miller auf ihr Äußeres, ihre Emotionen oder ihre Partnerinnen reduzierten. An diese Form der literaturbetrieblichen Satire schließen etwa die beiden folgenden Tweets an, indem sie bekannte männliche Autoren auf eine ähnlich unangemessene Art und Weise beschreiben wie Scheck die neue Nobelpreisträgerin.
Diese Form des digitalen kollektiven Spottereignisses dient der Dekanonisierung von kulturellen Beständen und Wertungskonventionen, die als politisch problematisch angesehen werden. Berit Glanz hat dazu einen spannenden Aufsatz geschrieben, der sich dem Thema "Memes als Wertung von Literatur in den Sozialen Medien" widmet. Darin geht es unter anderem auch um die erstaunlich hohe Dichte von Martin-Walser-Memes - und um die Frage, wie die enthierarchisierte Kommunikation auf Twitter regelmäßig die Luft aus dem aufgeblasenen Konzept des genialen Großautors lässt.
Hamilton und der politische Cringe
Ich habe nichts gegen Musicals ("West Side Story" ist einer meiner Lieblingsfilme) und ich habe auch nichts gegen Lin-Manuel Miranda ("Encanto" ist ein Meisterwerk) - aber das Musical "Hamilton", das im Oktober nun auch in Deutschland gestartet ist, löst bei mir den Cringe aus, den ein "cooler" Gemeinschaftskundelehrer auslösen würde, der für seine Schüler:innen das Grundgesetz rappt. Irgendwie kommen hier ein paar Kunstformen zusammen, die für mich vor allem eine Melange der Fremdscham erzeugen.
Lustigerweise gibt es zu dieser Form des Cringe ein SNL-Sketsch, in dem Lin-Manuel Miranda einen Vertretungslehrer spielt, der den sehr genervten Schüler:innen Shakespeare als "Rapper" schmackhaft machen möchte. Wo kulturelles Crossover sich anbiedern gestaltet, entsteht eine transparente Form der Korruption, die alle beteiligten Kunstformen ins Lächerliche zieht. In diesem Fall kann man sich nur wünschen: Close the border, open the gap. Wer sich für die Geschichte der USA interessiert, dem empfehle ich stattdesseb die ziemliche gute Serie "John Adams" oder den brillanten revisionistischen Roman "Burr" von Gore Vidal.
Bisher hatte ich den Eindruck, mit meiner Meinung über "Hamilton" ziemlich alleine dazustehen, aber jetzt wurde ich auf Twitter auf dieses Essay aufmerksam gemacht, das die ästhetischen und politischen Probleme des Musicals aufs Korn nimmt. Der Text beginnt mit einer Szene aus "America got Talent", in der eine Gruppe erwachsener Männer auftritt, die das Genre des Pirate-Rap etablieren wollen - und ja, das heißt, hier rappen Piraten.
Die These ist klar: "Hamilton" ist ungefähr so peinlich wie Piraten-Rap ("Captain Dan with an American Studies minor"). Eingeordnet wird der Erfolg des Musicals in die Aufstiegsgeschichte des Nerd-Rap oder "Nerdcore". Es handelt sich dabei um ein ziemlich interessantes kulturelles Phänomen, das zwei populärkulturelle Sphären miteinander vermischt, die auf den ersten (und vielleicht auch zweiten) Blick wenig miteinander zu tun haben.
Zudem wird angemerkt, dass die tatsächliche Politik Hamiltons so gut wie gar nicht thematisiert wird. Dafür gab es eine extrem heftige und schon damals unbehagliche Nähe von Politikern und dem Musical, wie in dem Essay hämisch dokumentiert wird:
"Die Obamas waren nicht die einzigen Mitglieder des politischen Establishments, die von einem schlimmen Fall von Hamiltonmania befallen wurden. Nahezu jeder Politiker in Washington hat sich die Show angesehen und wurde in vielen Fällen zu einem herzlichen Backstage-Gespräch mit Miranda eingeladen. Biden hat es gesehen. Mitt Romney hat es gesehen. Die Bush-Töchter haben es gesehen. Rahm Emanuel sah es am Tag nach dem Streik der Lehrer in Chicago wegen Haushaltskürzungen und Schulschließungen. Hillary Clinton besuchte das Musical am Abend, nachdem sie am Morgen vom FBI befragt worden war. Die Clinton-Kampagne hat auch Spendengelder gesammelt, indem sie Hamilton-Karten verkauft hat; für 100.000 Dollar kann man eine Aufführung zusammen mit Clinton selbst sehen."
Das Hauptproblem, das der Autor des Essays mit "Hamilton" hat, ist allerdings ein geschichtspolitisches. Die zeitgenössische Renarrativierung einer alten Geschichte mit einer diversen Cast wird dann zum Problem, wenn die Menschen, die renarrativiert werden, Sklaventhalter waren. Diese Form von Geschichtsklitterung erscheint für eine Erzählung ausgerechnet diesen Sujets alles andere als angemessen.
Ein guter Thread
Buchwidmungen sind eine ständige Quelle potentieller Peinlichkeiten. Hier wurden einige extrem gute Beispiele gesammelt:
Scheiße am Ärmel
Ein spannender Artikel in der "Republik" widmet sich der Frage, wie sich die Zuschauerzahlen schweizerischer Theater in den letzten Jahren entwickelt haben. Der Fazit ist nicht gerade fröhlich: "Es kommen weniger Leute ins Theater, auch nachdem die Kapazität der Häuser wieder gestiegen oder auf die volle Platzzahl hochgefahren worden ist." Ob es sich dabei um Publikumsschwund oder Publikumsschwankung handelt, ist vorerst unklar. Die Nervosität ist aber groß.
Hinter dieser Nervosität steht die Befürchtung, die Pandemie habe endgültig dazu geführt, dass klassische Präsenzformen von Kunst ihr Publikum verlieren. Plötzlich fällt den Zuschauer:innen auf, dass sie eigentlich gar nicht mehr gerne ins Theater/Konzert/Kino/Museum gehen, und sie bleiben einfach für immer daheim. Gleichzeitig (und vielleicht damit verbunden) lässt sich auch eine immer größere Gereiztheit im Verhältnis von Theater und Kritik feststellen. Im Artikel heißt es:
"Erst kürzlich sorgte der belgische Extremperformer Benny Claessens für Aufmerksamkeit, der im Zürcher Theater Neumarkt Regie führte und eine in der Schweiz lebende Kritikerin auf Facebook in Worten beleidigte, die einen Kritiker zu Recht den Job kosten würden (der Post wurde mittlerweile gelöscht). Das Kunstfest Weimar wollte gar «rechtliche Schritte» prüfen gegen eine gesprochene Radiokritik, die unter anderem sagte, eine Produktion sei nicht state of the art gewesen. Und Karin Beier, erfolgreiche Regisseurin und in Hamburg Intendantin einer der wichtigsten deutschsprachigen Bühnen, bezeichnete die Kritik vor einem Jahr pauschal als 'Scheisse am Ärmel der Kunst'."
In diesem Text in der "Nachtkritik" werden diese Zusammenstöße noch einmal etwas ausführlicher analysiert.
Die guten Texte
Dana Steglich schreibt auf POP Online einen spannenden Essay darüber, wie sich die großen Franchises der Unterhaltungsindustrie (wie das Marvel Cinematic Universe) immer mehr der Fanfiction annähern, und warum das ein Problem ist.
Warum "Trash" die eigentlich ästhetische Vorliebe der Gegenwartskultur (und insbesondere der amerikanischen Kultur) ist, analysiert dieser Essay.
Ein Porträt über "Siegfried und Roy", die erfolgreichsten Magier aller Zeiten, findet man hier im "Atlantic".