Wer darf mit Literatur Geld verdienen?
Über Fanfictions mit abgefeilter Seriennummer.
Kommerzialisiertes Wildern
Dieses Semester gebe ich in Mannheim ein Seminar zum Thema „Wem gehört die Literatur?“ Darin geht es um grundsätzliche Aspekte der Werkherrschaft, um Fragen wie: Wem ein Werk, wem gehört ein Stoff. Wer darf schreiben, wer darf damit Geld verdienen? Das sind Fragen, die alles andere als einfach zu beantworten sind und die über das Problem des Urheberrechts weit hinausgehen. Fanfiction ist einer der Phänomenbereiche, an denen sich in der Gegenwart immer wieder interessante Konflikte über literarische Eigentumsfragen entzünden. Fanfiction gibt es natürlich schon lang. Bereits 1992 hat Henry Jenkins darüber in seinem Klassiker der Fanforschung Textual Poachers geschrieben. Allerdings hat die Digitalisierung dieser Form des Schreibens und Veröffentlichens einen dermaßen großen Schub gegeben, dass man inzwischen von einem der bestimmenden Motoren der zeitgenössischen Literaturgeschichte sprechen kann.
Viele populäre Autor:innen der Gegenwart haben mit dem Schreiben von Fanfiction angefangen, haben dort das Schreiben und Veröffentlichen gelernt. Tatsächlich kann man wohl von einer regelrechten Schule der Autorschaft sprechen, die auf die Gegenwartsliteratur einen ähnlich großen Einfluss haben wird, wie die Creative Writing Programme in den USA. 2009 veröffentlichte Marc McGurl seine einflussreiche Studie The Program Era. Postwar Fiction and the Rise of Creative Writing - ein Buch, in dem er zeigen konnte, wie die Verbreitung der amerikanischen Schreibschulen seit der Nachkriegszeit die gesamte Literatur maßgeblich und nachhaltig geprägt haben. Ich kann mir gut vorstellen, dass jemand in dreißig Jahren ein ähnliches Buch über den Einfluss von Fanfiction veröffentlichen wird, im Sinne von: The Fanfiction Era.
Dieser Erfolg hat aus einer größtenteils nicht-kommerziellen Amateurkultur ein Feld wachsen lassen, aus dem immer wieder auch Bestsellerautor:innen hervorgehen, die aus ihren Fanfictions eigenständige Bücher machen. Im Betrieb wird dieses Verfahren mit dem Abfeilen der Seriennummer verglichen („fanfic with the serial numbers filed off“). Gemeint ist, dass man die Spuren des Ursprungstextes aus der Erzählung löschen muss, um den Text in einem kommerziellen Rahmen publizieren zu können. Das berühmteste Beispiel ist nach wie vor die Romanreihe Fifty Shades of Grey von E.L. James, die als Twilight-Fanfiction angefangen hat. Ähnliche Erfolge feierten aber auch Anna Todds After (One Direction-Fanfiction) oder Ali Hazelwoods The Love Hypothesis (Star Wars-Fanfiction).
Das Abfeilen des Ursprungstextes geht in vielen dieser Fälle ziemlich weit. Wer den Wikipedia-Artikel von The Love Hypothesis liest, wird nur noch wenige Spuren des Star-Wars-Universums erkennen. Aus den bekannten Figuren Rey und Kylo Ren wurden Olive und Adam. Aber auch das gesamte Setting hat sich verändert. Statt in fremden Galaxien spielt der Roman an einer Universität der Gegenwart. Die Protagonist:innen sind nicht Jedi-Ritter, sondern Wissenschaftler:innen an einem Biologie-Department. Trotz dieser massiven Verschiebung schleppt der neue Text die Spuren des Universums mit, aus dem die umgearbeitete Fanfiction stammt.
Es ist naheliegend, dass diese Verfahren zu Konflikten führen können. Jenny Hamilton schreibt in einem wütenden Text, es sei zwar eine gute Entwicklung, dass Fanfiction das Stigma des Leichtgewichtigen langsam verliere, allerdings habe das auch dazu geführt, dass die Verlage die Ursprungsgeschichte von Romanen nicht mehr verschweigen, sondern in den Mittelpunkt ihrer Marketingstrategien stellen. Als Beispiel nennt sie einige „Dramione“-Fics, die in letzter Zeit als eigenständige Romane großen Erfolg hatten. Dabei handelt es sich um Fanfictions, die die Paarung der Figuren Hermine Granger und Draco Malfoy aus dem Harry-Potter-Universum imaginieren. Diese Romane tragen Titel wie Roses in Chains, The Irresistible Urge to Fall for Your Enemy und Alchemised.
Für Hamilton handelt es sich bei diesen Veröffentlichungen um Beispiele für eine Entwicklung, die die queere, anti-rassistische, anti-kommerzielle Fanfiction-Kultur in den Bereich der IP-getriebenen Kulturindustrie überführt: „Feed fanfic into capitalism, and it comes out shaped like capitalism.“ Der Warencharakter dieser Bücher stellt Anforderungen an ihre Vermarktbarkeit, die vor allem durch den Rückbezug an die bereits erfolgreichen Reihen erzeugt wird. Damit werde das Elend der von Franchises beherrschten Hollywoodproduktion auf das Feld der Fanfiction übertragen.
Statt sich von den Vorlagen zu lösen und so eine eigene Autonomie auszubilden, unterwerfen sich diese Bücher dem Prestige eines bereits auf Verkäuflichkeit getrimmten IP: „Die Reylo- und Dramione-Booms“, schreibt Hamilton, „funktionieren wie Medienfranchises für Buchverlage, die auf zuverlässig lukrative IP setzen und deren Reichweite ausbauen. Für die Verlage ist das ein klarer Gewinn. Diese Bücher können durch eine stets plausibel zu leugnende Verbindung zum Fan-Eigentum von der Begeisterung der Fans profitieren.“
Dazu kommt gerade im Fall von Büchern, die als Harry-Potter-Fanfiction angefangen haben, auch die Möglichkeit, sich von der Autorin zu distanzieren, die sich in Teilen des Fandoms durch ihr transfeindliches Engagement unmöglich gemacht hat. Da die Romane ja ihre Seriennummern abfeilen müssen, werden vordergründig auch die unangenehmen Assoziationen mit J.K. Rowling verhindert. Für Hamilton handelt es sich um ein moralisches Feigenblatt, das es Leser:innen erlaubt, weiter an dem erzählerischen Universum partizipieren zu können, ohne sich dabei schlecht fühlen zu müssen. So erlauben diese Romane den Verlagen eine paradoxe Win-Win-Situation: Man kann Harry Potter produzieren, ohne Harry Potter zu produzieren.
Die Konflikte um das Abfeilen der Seriennummern werfen interessante Fragen zum Thema Kommerzialisierung und Professionalisierung auf. In dem Moment, in dem mit einer Erzählung Geld verdient wird, verändert sich die literarische Kommunikationssituation grundlegend, aber eben auch die Vorstellung von Autorschaft. Wenn die Arbeit von Fanfiction als Schule des Schreibens verstanden wird, dann würde die kommerzielle Publikation den Aufstieg zur professionellen Autor:in markieren, die den Ursprungstext erfolgreich zurücklässt. Das wäre allerdings eine Perspektive, die Fanfiction als eigenständige Kultur marginalisiert - als wären die Ursprungstexte nur Stützräder eines noch nicht eigenständigen Schreibens. Gleichzeitig kann die Professionalisierung, die mit diesem Abfeilen verbunden ist, neue Formen der Abhängigkeiten mit sich bringen. Darauf zielt die Polemik Hamiltons ja ab. Die relative Freiheit, die das nicht-kommerzielle Schreiben in einem erkennbaren Universum gewährt, wird dann durch die Unfreiheit eines Schreibens für den Markt ersetzt.
(Wichtige Hinweise verdanke ich Berit Glanz, deren Newsletter Phoneurie man hier abonnieren kann.)
Die guten Dinge
In einem deprimierenden Text im Guardian geht es um die Comedians, die sich bereit erklärt haben, beim Riyadh Comedy Festival mitzuwirken und dazu trostlose Erklärungen abgegeben haben. Amanda Petrusich ist im New Yorker alles andere als begeistert vom neuen Album von Taylor Swift. Anlässlich der Veröffentlichung des lang erwarteten Spiels Hollow Knight: Silksong, das nun viele Spieler:innen wegen des hohen Schwierigkeitsgrads frustriert, fragt Rainer Sigl, ob der “Härtefetisch” einiger modernen Videospiele noch zeitgemäß ist. In einer brillanten neuen Folge des Podcasts If Books Could Kill geht es um den Gründungstext der kapitalistischen Selbstoptimierungsindustrie: Dale Carnegies How to Win Friends and Influence People. In einer neuen Folge von Decoder Ring wird die Frage geklärt, wen wir hören, wenn Schauspieler:innen in Filmen singen und warum Timothée Chalamet unbedingt lernen musste, wie Bob Dylan zu singen.
In eigener Sache
Kunstzerstörung ist eine Form der Sachbeschädigung mit großer diskursiver Energie. Denn der Sonderstatus des Ästhetischen macht es fast automatisch zum Skandal, wenn Kunst attackiert wird. Für die Schweizer Wochenzeitung habe ich einen Essay über moderne Kunstzerstörung geschrieben. Warum sind die ungeschickten Hintern Selfie-geiler Touristen gerade die größte materielle Gefahr für die Kunst? Wird das Publikum in Museen wieder ungezogen? Definiert sich Kunst aus dem Respekt, den man dafür einfordern kann? Hier kann man weiterlesen.
Außerdem ein paar Termine für die kommenden Wochen. Vom 8.-10. Oktober findet in Berlin die Tagung “Stil und Moral” statt. Es wird (am 10.) auch ein Panel mit Hanna Engelmeier, Diedrich Diederichsen und mir geben. Am 13.10. werde ich in Augsburg über mein Buch “Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten” reden. Und am 16.10. wird es bei der Buchmesse auf der Bühne “Zentrum Wort” eine Diskussion zum Thema “Nach der Kritik – neue literarische Öffentlichkeiten und ihre Kriterien” geben, mit Miryam Schellbach, Marie Schmidt, Jan Wiele und mir.


