Was kann man mit erfundenen Geschichten alles falsch machen?
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt.
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Eines der Forschungsthemen, dass mich am längsten umtreibt, ist der Status der Fiktionalität, also der Status der Erfundenheit von Erzählungen. Das Thema kann auf den ersten Blick unproduktiv erscheinen, weil die Kultur sich angewöhnt hat, zu vermitteln, dass fiktionale Texte frei und autonom sind und deshalb vollkommen klar sein muss, wie man damit umzugehen hat. Wenn in der Schule etwa eingeprügelt wird, dass man Autor*in und Text voneinander trennen muss, wenn Menschen ausgelacht werden, die Realität und Fiktion 'verwechseln', wenn darauf verwiesen wird, dass literarische Texte nur auf sich selbst verweisen - dann sind das Folgen einer dogmatischen und statischen Vorstellung davon, was Fiktionalität bedeutet.
Dass der Status außerhalb der Wissenschaft in der Realität der tatsächlichen Rezeption, im Nahkampf der Debatte etwa, viel interessanter und komplizierter ist, zeigen dagegen die unzähligen Skandale und Prozesse, die um fiktionale Texte geführt werden. Es gibt eine lange und wilde Geschichte der Fiktionskritik, die auf der Frage beruht, was man mit erfundenen Texten falsch machen kann. Darüber habe ich vor einigen Jahren schon einmal einen Aufsatz veröffentlicht, der ein paar grundsätzliche Fragen stellt und den ich hier zugänglich machen möchte:
Fiktionskritik. Überlegungen zur ‚Unwahrheit‘ des literarischen Erfindens
Fiktionalität bedeutet Freiheit: Indem ein Autor einen Text als ‚fiktional‘ markiert, erwirbt er sich das Recht, bestimmte Lizenzen in der Darstellung wahrzunehmen. Der Verfasser eines fiktionalen Textes ‚darf‘ mehr als der Verfasser eines faktualen Textes. Ein Romancier muss sich nicht an dieselben Regeln halten wie eine Journalistin, ein Theaterautor hat mehr Freiheiten als eine Historikerin. Diese Freiheit beruht auf dem Versprechen, das fiktionale Texte ihren Lesern in einer konventionalisierten Kommunikationssituation vermitteln: Für die bedeutsamen Elemente der hier dargestellten Handlung (und das heißt in den meisten Fällen für die Protagonisten) existieren keine Referenten in der Alltagswirklichkeit– es handelt sich um erfundene Figuren.
Zu den meistgenannten Lizenzen, die sich aus dieser markierten Erfundenheit ableiten lassen, gehören das Recht auf umfangreiche Bewusstseinsdarstellungen; das Recht darauf, die Struktur der Handlung nach den Kriterien literarischer Kohärenzbildung (Leitmotive, poetic justice) zu gestalten, sowie das Recht, von den konventionalisierten Regeln der Wahrscheinlichkeit abzuweichen (Phantastik). Weniger oft genannt, aber meines Erachtens von ebenso großer Bedeutung, ist das Recht auf Rücksichtslosigkeit: Erfundene Figuren können den Autor nicht verklagen oder ihm wütend die Freundschaft kündigen. Eine fiktive Figur kann auch durch die gnadenloseste Charakterisierung nicht verletzt werden – die Nicht-Referenz fiktionaler Texte befreit ihre Verfasser also von Rücksichtnahme.
Allerdings ist die Praxis der Fiktion, das markierte Erfinden von Figuren, Schauplätzen und Ereignissen, immer auch historisch und kulturell bedingten Reglementierungen unterworfen. Denn die Freiheit, die den Autoren fiktionaler Texte zukommt, wird je nach soziokulturellem Kontext auch als Gefahr wahrgenommen.
Die Vorstellung, dass Fiktion Lizenzen besitzt, begleitet grundsätzlich auch die Angst davor, dass diese Lizenzen missbraucht werden könnten. Fiktionskritik findet hier ihren Gegenstand: Sie ist darum bemüht, vor den negativen moralischen, politischen und ästhetischen Begleiterscheinungen des literarischen Erfindens zu warnen. Fiktionskritik beschäftigt sich mit der Frage, was mit fiktionalen Texten falsch gemacht werden kann, und wo, notfalls mit institutionalisierter Gewalt, die Freiheiten, die mit diesem Textstatus einhergehen, eingeschränkt werden müssen. [weiterlesen]
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