Warum freuen sich Menschen über die Scheidung einer Sängerin?
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt. Wer sich für Streitereien und Debatten über Bücher, Filme, Musik, Serien und viele andere Dinge, die uns entzweien, interessiert, der ist hier an der richtigen Stelle.
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Ich interessiere mich sehr für Phänomene des schlechten Gewissens, die durch den Konsum und vor allem Nichtkonsum von Kultur und Bildung erzeugt werden können. Die Romane, die man immer zu lesen vorhatte, die Musik, die man endlich einmal hören muss, die Bildungslücken, die bald gestopft werden sollten etc. Man hat einen Stapel von Dingen im Hinterkopf, der immer weiter anwächst und dabei ein unterschwellig schlechtes Gefühl produziert - eine kulturelle to-do-Liste, mit all den unangenehmen Folgeerscheinungen, die diese Form der modernen Buchführung mit sich bringt.
Ein bekanntes Problem in dieser Hinsicht ist die Flut an periodisch erscheinenden Medien, die ständig in den Briefkasten oder ins digitale Postfach schwappt. All die Ausgaben einer Zeitschrift, die man auf jeden Fall noch lesen will und die sich, oft an unterschiedlichen Orten der Wohnung stapeln und ausbreiten; all die Artikel, die man sich abgespeichert hat und die nun langsam in der Pocket App vergammeln, all die Lesezeichen und PDFs, die in verstreuten Ordnern langsam versickern (Lesen_alt2_alt). Und inzwischen auch: All die Newsletter, die neben Spam und Arbeitsmails (die man jetzt auf jeden Fall morgen beantworten...) das Postfach verstopfen und darauf warten, dass ihr Status von 'ungelesen' auf 'gelesen' verändert wird.
Mich würde interessieren, wie ihr mit diesem lebenspraktischen Problem umgeht. Meine Empfehlung wäre, in Bezug auf Medien einen radikalen Mut zum Wegwerfen zu entwickeln. Es kommt in meinem Bekanntenkreis zum Beispiel öfter vor, dass Menschen die Freude an einem Magazin verlieren, weil sie nicht mehr mit dem Lesen nachkommen. Ich kenne dieses Gefühl und habe mir angewöhnt, alte Ausgaben konsequent zu verabschieden, wenn die neue erscheint. Dann hat man den Artikel über Blumendrucke im 18. Jahrhundert oder die Rezension des neuen Romans von Jonathan Franzen eben nicht gelesen. Feuilleton wächst immer nach, aber man muss ihm auch Raum und Luft zum Nachwachsen geben. Ansonsten verliert man die Freude daran, weil der Stapel aus ungelesenen Texten einem wie ein Mühlstein um den Hals hängt. Man erkennt die Vitalität eines periodischen Mediums eben auch dadurch an, dass man bereit ist, wegzulassen, zu verpassen, auszusitzen, auszusortieren.
Das gilt auch und insbesondere für diesen Newsletter. Falls im Postfach noch fünf ungelesene Ausgaben hocken und grimmig schauen: Einfach löschen, es werden noch viele weitere kommen.
Eine kulturgeschichtliche Ironie der Gegenwart
Ausgerechnet der Soziologe Steffen Mau, der in seinem Buch "Das Metrische Wir" die Tendenz der Gegenwartskultur zum Ranken, zu Listen etc. kritisiert hat, wurde vom bekannten Soziologiemagazin "Super Illu" auf die Liste der "50 wichtigsten Ostdeutschen" gewählt. So wird einfach jede Kulturkritik von der Kultur überholt, die sie kritisieren will.



Die Freude über die Scheidung Adeles
Die Neuveröffentlichung alter Alben von Taylor Swift hat dazu geführt, dass auch die alten Ex-Partner der Sängerin, die in den Songs verarbeitet wurden, erneut von den Fans zur Verantwortung gezogen und teilweise heftig beschimpft wurden. Die ganze Geschichte ist nicht nur ein gutes Beispiel für die "verschobene Zeitlichkeit sozialer Medien", wie Berit Glanz in ihrem Newsletter geschrieben hat (Immerhin ist das Album 10 Jahre alt), sondern auch eine faszinierende Quelle für die Erforschung der Art und Weise, wie Fans heute ihr emotionales Verhältnis zu ästhetischen Artefakten praktizieren. Der Genuss der Musik lebt eben auch von der Identifikation mit den realen Schmerzen, die diese Musik angeblich inspiriert haben, und man möchte an diesen Schmerzen partizipieren. Es ist deshalb auch nur halb verwunderlich, dass Fans auf die Nachricht der Scheidung Adeles teilweise offenbar mit Freude reagierten, wie man aus einem Porträt im "Rolling Stone" erfährt:
"Tweets und Memes überschwemmten die sozialen Medien und drückten nicht nur den Schock über das Ende der Beziehung aus, sondern auch die Begeisterung über die Idee, dass Adeles Schmerz zu neuer Musik inspirieren würde. Man kann die Fans in gewisser Hinsicht verstehen. Adele hat ihr Imperium auf Liebeskummer aufgebaut: bewegende Reflexionen über den Schmerz und seine Folgen [...]. Als Adele und Konecki ihre Trennung bekannt gaben, waren seit ihrem letzten Album, 25, fast vier Jahre vergangen, und ihr Publikum war hungrig nach etwas Neuem. Und was eignet sich besser als eine öffentlichkeitswirksame Scheidung für ein neues Album?"
Die Vorstellung, dass es Menschen gibt, die bei der Nachricht einer Scheidung frohlocken, weil sie sich vom Schmerz, der dieses Ereignis auslöst, eine angenehme ästhetische Erfahrung für sich selbst versprechen, ist gleichermaßen rührend und monströs. Was sich hier zeigt, ist vor allem, wie messy unsere Alltagstheorien über das Wesen einer ästhetischen Erfahrung sein können.
Kunst als Propaganda?
Im Online Feuilleton 54books (wo ich Redakteur bin) gibt es inzwischen eine ganze Reihe spannender Artikel zu Frage, wie Unterhaltungsnarrative über die Polizei unsere Wahrnehmung beeinflussen. Diese Texte ergeben inzwischen einen - wie ich finde - sehr produktiven Gesprächsfaden. Im Sommer 2020 schrieb die Literaturwissenschaftlerin Sandra Beck über die "Zwei Seiten von Law & Order". Hier ging es vor allem um die ethischen Probleme, die allein damit einhergehen, dass in zeitgenössischen Kriminalerzählungen fast immer die Ermittler*in im Mittelpunkt steht. Eine typisch moderne Perspektive: "Zu beobachten ist ein programmatischer Blickwechsel von der anthropologisch grundierten Analyse des verbrecherischen Herzens zu den Tiefen der Ermittlerseele." Im September dieses Jahres griff der Schriftsteller und Journalist Till Raether diese Überlegungen auf, um sich aus persönlicher und professioneller Perspektive Gedanken über "Die Verantwortung der Krimi-Autor*innen" zu machen. Ein wichtiger Text zu einem "obrigkeitshörigen Genre", der mit dem Fazit endet: "Ich denke, ich muss die Leser*innen und mich selbst von der Polizei wegschreiben."
Jetzt hat Isabella Caldart einen Essay über die Serie "Brooklyn Nine-Nine" geschrieben, in dem es darum geht, wie die Macher*innen auf den Vorwurf reagieren, selbst "Copaganda" zu betreiben. "Brooklyn Nine-Nine" galt lange Zeit als die auch politisch 'gute' Cop-Serie. Allerdings ist das Problem am Gutsein eines Narrativs, das es ausgesprochen schwierig wird, die Figuren zu problematisieren: "Das grundlegende erzählerische Problem, das „Brooklyn Nine-Nine“ in der letzten Staffel nicht lösen kann, resultiert daraus, dass die sehr treue Fanbase über viele Jahre hinweg die Protagonist*innen als inhärent gute Personen mit hohen moralischen Standards kennengelernt hat."
Der Text verweist auf eine grundsätzliche Streitfrage der ästhetischen Theorie, nämlich: Wie viel Einfluss hat Kunst auf unsere Weltwahrnehmung und auf unsere Urteilskraft? Diese Frage steht erstaunlicherweise im Hochkultursegment immer noch unter Verdacht, weil sie impliziert, dass Erzählungen nicht autonom sein könnten. Da ist dann auch der Vorwurf nicht mehr weit, ethische oder politische Begehrlichkeiten würden die ästhetischen Aspekte eines Werkes marginalisieren. Dieses seltsame theoretische Sauberkeitsbedürfnis verhindert systematisch, dass Fragen, wie man sie sich selbstverständlich in Bezug auf ein popkulturelles Phänomen wie "Brooklyn Nine -Nine" stellen kann, im akademischen Bereich diskutiert werden. Eine dieser Fragen wäre z.B. wie wir das konkrete Vergnügen an einer Erzählung mit den ethischen Schwierigkeiten harmonisieren, die gerade dort entstehen, wo die Erzählung am meisten Vergnügt. Horror-, Militär- oder Kriminalerzählungen leben geradezu von dieser Diskrepanz.