Wahre beklagenswerte blutige Geschichten
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt. Wer sich für Streitereien und Debatten über Bücher, Filme, Musik, Serien und viele andere Dinge, die uns entzweien, interessiert, der ist hier an der richtigen Stelle.
Wenn euch dieser Newsletter gefällt, empfehlt ihn gerne weiter oder teilt ihn auf den Sozialen Medien. Das ist eine große Hilfe! Man kann ihn auch finanziell unterstützen und zwar für nur 4 Euro Pro Monat, das ist nur ein Euro pro frischem Newsletter.
Wahre beklagenswerte blutige Geschichten
True Crime, die spannungsreiche Erzählung realer Kriminalfälle, gehört zu den Leitgattungen der Gegenwart. Ein spannender Essay im New York Review of Books zeigt allerdings, dass bereits zu Shakespeares Zeiten ein großer Hunger nach True Crime existierte. In den selben Theatern, wo Hamlet und Macbeth aufgeführt wurden, sorgten auch Dramen, die reale Mordfälle aufgriffen, für volles Haus. Diese Stücke trugen Titel wie A Warning for Fair Women oder Beech’s Tragedy. Es ging um Mord, Diebstahl, Ehebruch. Oft wurden die schrecklichen Taten auf der Bühne inszeniert; die Regieanweisung für die Ermordung des Dieners von Beech lautet: „Als der Junge in den Laden geht, schlägt Merrie sechs Mal auf seinen Kopf und lässt beim siebten Mal den Hammer in seinem Kopf stecken.“ Ihre Stoffe bezogen sie aus Pamphleten und Balladen über zeitgenössische Fälle – eine Art von elisabethanischem Proto-Boulevard. Dabei wurden auch Fälle aufgegriffen, die nur kurze Zeit zurücklagen:
„Der Mordfall Arden war bereits vierzig Jahre alt, doch die Aktualität des Themas gewann zunehmend an Bedeutung. Am 6. September 1602 erhielt William Haughton einen Vorschuss für ein Stück über die Ermordung eines Pfarrers aus Lincolnshire nur acht Tage zuvor. Mit dieser Entwicklung hin zur Aktualität ging auch ein Wechsel des Quellenmaterials einher. Die Arden-Autoren entnahmen ihre Geschichte den seriösen Seiten von Holinsheds Chronicles of England, aber die Quellen für spätere Stücke sind journalistischer Natur: Nachrichtenblätter, Kapellenbücher, Balladen. Man kann den Aufstieg des True-Crime-Dramas als einen kommerziell motivierten Versuch sehen, sich dieses Terrain des billigen, populären Drucks anzueignen. Die Pamphlete und die Theaterstücke haben praktisch ununterscheidbare Titelblätter: dieselben Schlüsselwörter - 'wahr', 'beklagenswert', 'unnatürlich', 'blutig' - und dieselbe Kombination aus reißerischem und moralischem Inhalt. Einige der Flugblätter sind mit grausigen Holzschnitten illustriert: ein weiterer Ansporn zur Dramatisierung.“
Dieser Ausschnitt erinnert nicht nur fatal an die True Crime-Industrie unserer Gegenwart, sondern deutet auch an, wie stark das, was heute als unzweifelhafte Hochkunst im Museum der Literaturgeschichte eingesperrt ist (Shakespeare und Co.), einmal im Dialog und als Ausdruck einer Unterhaltungswirtschaft entstanden ist. Die Vitalität eines Stückes wie Macbeth speist sich nicht in erster Linie aus dem philosophischen Gehalt des Textes, sondern aus dem Hunger nach Sensation, emotionaler Erregung und Identifikation mit menschlichem Leid, der das Publikum um 1600 an einem Abend zu Shakespeare hat strömen lassen, und am nächsten dann wieder zum Hammermord.
Hassfolklore als Unterhaltungsindustrie
Sensation, Schaulust und ein unstillbares Bedürfnis nach Grausamkeit charakterisieren auch den Fall, den Sascha Lobo in diesem wütenden Artikel erzählt. Es handelt sich um eine Geschichte, die einerseits in der Tradition einer Kulturgeschichte der Grausamkeit steht und andererseits komplett neu ist, weil getragen durch die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung . Der Youtuber Drachenlord wurde in den letzten Jahren aufs heftigste gemobbt. Organisierte Gruppen tauchten vor seinem Haus auf und bedrohten ihn. Jetzt muss er wegen Körperverletzung ins Gefängnis.
Der Fall ist ein Beispiel dafür, wie schnell ritualisiertes Cybermobbing ins analoge Leben von Menschen eindringen kann. Lobo verwendet dafür den sehr guten Begriff „Hassfolklore“, das kollektive, routinierte, spielerische Ausleben von Hass, das eine eigene Kultur der Vergemeinschaftung erzeugt. Mobbing, das verrät schon der Begriff, hat für die Täter eine wichtige soziale Funktion. Man wächst zusammen. Insofern ist Mobbing auch nicht weniger vereinsmeierisch als Fußballfandom oder Hasenzüchten. Eine Kulturgeschichte der Hassfolklore, von öffentlichen Hinrichtungen bis zur öffentlichen digitalen Vernichtung könnte sicherlich einige unschöne anthropologische Grundkonstanten zu Tage bringen.
Eine Frage, die ich mir in diesem Zusammenhang schon länger stelle, ist übrigens diese: Ob die Erfindung der modernen Fiktionalität, also der Konsum erfundener Figuren, in gewisser Hinsicht auch ein Instrument war, um die Hassfolklore mit realer Menschen zu kompensieren. Gemeint ist nicht kollektiver Hass, sondern die spezifische Form der Hassfolklore als kulturelle Praxis. Man hasst dann nicht mehr gemeinsam den Verbrecher auf dem Schafott, sondern eine fiktive Figur, die ein Bedürfnis nach emotionaler Abscheu auffangen kann. Die nächste Frage wäre, ob die Digitalisierung mit ihrer Tendenz, die Grenzen zwischen Fiktion und Realität einzureißen, dieses Kompensationspotential beschädigt hat. True Crime und Cybermobbing wären dann Ausdruck einer Schwächung der Fiktionalität. Aber das sind eben nur Gedanken, die man erst einmal in einen Newsletter schreibt. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr habe ich den Eindruck, das stimmt vielleicht gar nicht.
Dies das Habermas
Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit hat Jürgen Habermas in einer Sonderausgabe der Zeitschrift Leviathan eine Revision seiner ehrwürdigen Öffentlichkeitstheorie vorgenommen. Der ganze Band widmet sich einem "neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit" in Zeiten der Digitalisierung. Auf die Ironie, dass dieser Beitrag gut versteckt und schwer zugänglich ist, hat Oliver Weber in seinem Artikel in der FAZ hingewiesen. Das deutet die redaktionellen Schranken und Bearbeitungsschritte an, die eben für die digitale Kommunikation nicht gelten - ein Umstand, der Habermas Einschätzung des neuen Strukturwandels prägt. Auch Samira El Ouassil hat hier über den überraschenden Theorie-Drop des Philosophen geschrieben.
Was ich an dem Aufsatz, der den Titel "Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit" trägt, bemerkenswert fand, war, dass er ein wenig wie ein Tagungsbericht wirkte, ein Nachwort, das - eigentlich recht bescheiden - die Beiträge des Bandes zusammenfassend kommentiert. Ansonsten findet sich dort natürlich die (allerdings sachte artikulierte) etablierte Furcht vor der anarchischen Kommunikation des Internets. Etwas schmunzeln musste ich darüber, dass Habermas in den 1960er Jahren noch schwer über die Passivität geschimpft hat, die die Massenmedien bei den Konsument*innen erzeugen und jetzt in der zu großen Aktivität der digitalen Öffentlichkeit das Verderben wittert. Darüber hier wiederum eine produktive Diskussion. Das Problem ist natürlich, dass auch diese Analyse nicht von konkreten Phänomenen ausgeht. Mich würde natürlich am meisten interessieren, was Habermas zu der Drachenlord-Geschichte zu sagen hätte.
Die guten Texte
Über das Verhalten von Prominenten und Künstler*innen in der Pandemie müssen dereinst längere Kulturgeschichten geschrieben werden. Hier aber erst einmal ein bestürzender Text darüber, wie Eric Clapton sich in dieser Hinsicht (und in anderen) verewigt hat. Warum Facebook jetzt plötzlich "Meta" genannt werden möchte, wird in diesem Artikel analysiert, der mit der angemessenen Entgeisterung über die Idee des Metaverses daherkommt: "Es gibt keinen einzigen Menschen, der die Facebook-Nachrichten gelesen und gesagt hat: Ja, tauche mich in diese Realität ein. Ich möchte das Meme meines Onkels über Hot Pockets auf meinem Gesicht spüren". Und ein lesenswerter Essay über Buchbesitz im 17. Jahrhundert.