Tödliches Mäzenatentum
Ein Essay über Kunst, Macht und Enthüllungsjournalismus

Die Bedeutung des journalistischen Dreckwerfens
Die Opioidkrise in den USA ist eine der größten Katastrophen des 21. Jahrhunderts. Hunderttausende Menschen starben bereits an den Folgen einer Abhängigkeit von Schmerzmitteln, die von Pharmaunternehmen in großem Stil als legale Medikamente vermarktet wurden. Mancher mag deshalb das Buch Empire of Pain von Patrick Radden Keefe, das sich mit der Genese dieser Krise beschäftigt, mit ungläubigen Staunen über das schiere Ausmaß an menschlicher Verworfenheit und skrupellosem Gewinnstreben lesen.
Erzählt wird der Aufstieg der Brüder Sackler, Arthur, Mortimer und Raymond. Kinder von Einwanderern, geboren zwischen 1913 und 1920, in einfachen Verhältnissen in Brooklyn aufgewachsen, später Pharmaunternehmer. Die amerikanische Erfolgsgeschichte wird als solche erzählt, steht aber durch Vorausblenden von Anfang an im Zwielicht der Gewissheit, dass ihre Nachkommen mit der Firma Purdue Pharma das Medikament OxyContin entwickeln werden. Ein Medikament, das unzählige Menschen, so erzählt es Radden Keefe, in den Tod führen wird.
Radden Keefe ist Autor des New Yorker und vor allem durch sein voriges Buch Say Nothing über den Nordirlandkonflikt bekannt geworden. Say Nothing ist ein Meisterwerk des narrativen Journalismus, das nach seinem Erscheinen 2019 von der Kritik überschwänglich gelobt wurde. Empire of Pain ähnelt der Anlage und Erzählweise nach eher Thomas Manns Buddenbrooks , ist also ausgesprochen literarisch erzählt, mit einer starken Konzentration auf die Protagonistinnen und Protagonisten. Das hat durchaus einen Effekt: Die Katastrophe bekommt Gesichter, Verantwortliche.
Radden Keefes Buch ist aber nicht die einzige Erzählung, die sich mit den Sacklers und ihren Taten beschäftigt hat. 2021 erschien bei HBO Alex Gibneys mehrteilige Dokumentation The Crime of the Century. Gibney ist ein Chronist moderner Charakterlosigkeit, seine Filme drehen sich, mit teilweise morbider Faszination, um skandalträchtige Konstellationen der jüngeren Zeitgeschichte: Enron, WikiLeaks, Scientology, der Dopingfall Lance Armstrong. Es geht um die Dinge, die Menschen tun, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. In einer Zeit, die scheinbar von einer totalen Öffentlichkeit beherrscht wird, zeigt Gibneys Personal von Gaunern, Kultisten, Agenten und korrupten Bürokraten, wie stabil die Mauern aus Fehlinformation, Geheimnissen und Mythen nach wie vor sind, die Verbrechen vor der Öffentlichkeit verbergen.
Buch und Dokumentation erzählen beide davon, wie OxyContin, ein hochdosiertes Opioid, das eigentlich vor allem für die Palliativmedizin geeignet ist, aggressiv als allgemeines Schmerzmittel vermarktet wurde. Und wie dabei eine Armada von Vertreterinnen und Vertretern dafür sorgte, dass eine große Anzahl willfähriger Ärztinnen und Ärzte das Produkt als Allheilmittel für jeden Schmerz an unzählige Menschen verschrieb. Ein medizingeschichtlicher Wandel hin zu einer stärkeren Anerkennung von Schmerz als behandlungswürdig wurde von den Sacklers und anderen Pharmaunternehmern als perfekte Möglichkeit gesehen, Geld zu verdienen - Schmerz wurde zu einer Geschäftsidee. Dass die abhängig Gemachten oft irgendwann aus Not auf illegale Drogen umstiegen und absehbar an ihrer Sucht krepierten, interessierte dabei nicht oder nicht genug.
Gibney ist das, was man im Englischen einen “ muckraker “ nennt, einen Schmutzwühler. Mit Muckraking wird seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine Art des investigativen Journalismus bezeichnet, der gezielt gegen die Mächtigen einer Gesellschaft vorgeht und so lange in ihren verborgenen Verfehlungen wühlt, bis sie die Öffentlichkeit erreichen. Zum Muckraking gehört eine gewisse Verbissenheit, eine Form des politischen Zorns, der sich nicht nur gegen einen isolierten Fall richtet, sondern gegen eine ganze Struktur. Klassiker des Genres sind Ida Tarbells Artikelserie gegen die korrupten Machenschaften von John D. Rockefellers Standard Oil Company oder Nelly Blys Ten Days in a Mad-House.
Wie Gibney steht auch Radden Keefe in dieser Tradition eines polemisch-kritischen Journalismus, wie Gibney versucht auch er, Missstände über handelnde Schurken zu erzählen, ohne dabei die Strukturen aus dem Blick zu verlieren, die ihren Erfolg überhaupt ermöglichen. Die Geschichte der Opioidkrise ist, auch das gehört zu den Erkenntnissen dieser Art von Muckraking, nicht nur eine Geschichte individuellen Fehlverhaltens, sondern auch die Geschichte verrotteter Institutionen, deren Aufgabe es gewesen wäre, das Unternehmen zu überprüfen. Erzählt wird - bei Gibney und Radden Keefe - etwa von Curtis Wright, dem Angestellten der Food and Drug Administration, der OxyContin bescheinigte, nicht gefährlich suchterzeugend zu sein, und der kurze Zeit später in ein lukratives Anstellungsverhältnis bei Purdue Pharma wechselte.
Erzählt wird bei beiden auch davon, wie gekaufte Spezialisten mit Konzepten wie Pseudoaddiction (Pseudo-Sucht) im Rahmen einer teuren Medienkampagne die Gefahr des Medikaments herunterspielten. Diese Kampagne wäre allerdings kaum möglich gewesen ohne die kulturelle Abscheu vor Drogensüchtigen, die in den USA zur grausamen neopuritanischen Kriminalisierung eines systemischen Problems geführt hat. Lange Zeit konnten die Sacklers darauf verweisen, dass nicht das Medikament das Problem sei, sondern Konsumentinnen und Konsumenten, die es zweckentfremden würden.
Die Sacklers, das machen Buch und Film plausibel, konnten somit ein sauberes narratives Vakuum um sich herum schaffen. Und die Erzählungen, die jetzt aggressiv in dieses Vakuum vordringen, sind gerade deshalb bedeutsam, weil sie von der zunächst nicht gerade sympathischen Motivation getragen sind, eine Reputation zu zerstören, einen Familiennamen zu beschmutzen, der von den Patriarchen selbst auch immer strikt vom Geschäft getrennt wurde. Radden Keefe baut dieses Vorhaben sogar als erzählerische Ironie in sein Buch ein, indem er immer wieder darauf verweist, wie wichtig dem Patriarchen Arthur Sackler der Name der Familie gewesen sei.
Beide Werke durchbrechen die zurückhaltende Selbstinszenierung der Familie, die kaum Bildmaterial produziert hat. Insbesondere von Richard Sackler, dem Neffen Arthurs und eigentlichen Protagonisten der OxyContin-Kampagne gab es lange Zeit kaum Fotos oder Videos. Als der Comedian John Oliver der Familie 2019 ein satirisches Segment widmete, ließ er eine Vorladung Arthur Sacklers während eines Prozesses gegen Purdue Pharma von berühmten Schauspielern im Stil von Filmschurken nachspielen, da die Videoaufzeichnung dieser Vorladung juristisch unterdrückt wurde. Diese filmische Nachstellung zeigt im Kontrast zum tatsächlichen Videomaterial, das inzwischen verfügbar ist und auch in The Crime of the Century gezeigt wird, wie wenig dramatisches Potenzial Arthur Sackler - trotz einer gewissen trockenen Kälte - als Figur besitzt.
Generell stellt die charismatische Abwesenheit der handelnden Personen in ihren geschäftlichen Taten die Chronisten der Sackler-Familie vor gewisse Herausforderungen. Gibney energetisiert seine Dokumentationen normalerweise durch das Charisma seiner Schurken. Dann hat man den Eindruck, dass das Genie des Regisseurs sich im negativen Genie seiner Figuren spiegeln soll und dass die ungewollte Heroisierung der Protagonistinnen und Protagonisten die kulturellen Faktoren ihres Erfolgs in den Hintergrund rücken lässt. Ein gutes Beispiel dafür ist der überlebensgroße Lance Armstrong, der sich außerordentlich gut als Figur in einer Erzählung über Betrug und Selbstbetrug eignet, sich quasi selbst dafür anbietet, zur Figur gemacht zu werden.
Gerade deshalb erscheint das grundsätzliche Problem des modernen Muckrakings, die Konzentration auf Individuen im Dienst der dramatischen Konsumierbarkeit, im Fall der Sackler-Familie sogar als Vorteil. Es geht darum, eine Gruppe von Menschen, die sich mit allen Mitteln der Erzählung zu entziehen versucht, mit einem Narrativ auszustatten, das ihren Taten angemessen ist. Es geht darum, sie als die Schurken erscheinen zu lassen, als die sie - bisher erfolgreich - nie aufgetreten sind.
Die Mittel dafür können sehr unterschiedlich sein - und nicht nur Radden Keefe und Gibney haben versucht, sie auszuschöpfen. Die Comedienne Samantha Bee attackierte die Sacklers etwa, indem sie in ihrer Sendung ein Sackler-Museum der frivolen Dinge aufbaute, die die Sacklers mit ihrem “Blutgeld” gekauft haben ( The Sackler Museum of Stupid Shit the Sacklers Bought With Their Blood Money ). Darunter fand sich auch ein Kuchen in Form einer Sphinx, der beim Geburtstag eines Sackler-Bruders im Sackler-Flügel des Metropolitan Museum of Art serviert wurde.
Diese Anspielung auf ein Museum richtet sich schließlich gegen einen wichtigen, wenn nicht den wichtigsten Aspekt der erfolgreichen Selbsterzählung der Sacklers. Diese waren nämlich lange als Mäzene der Kunst aufgetreten und hatten diesen Aspekt des familiären Engagements immer in den Vordergrund gerückt. “Kultur wäscht Pharmageld”, schrieb die FAZ 2018 lakonisch über den Vorgang. Darauf spielt auch Gibney an, wenn er zu Beginn seiner Dokumentation eine Collage von Museen zeigt, die den Namen Sackler an prominenten Orten ausstellen - dazu eine höhnische Einspielung von Curtis Mayfields Pusherman .
Der Fall liefert somit nicht nur erschreckende Beispiele für systemisches und menschliches Versagen, kriminelles kapitalistisches Verhalten zu verhindern, sondern auch reichhaltiges Material für eine kultursoziologische Modellstudie zur zerstörerischen Kraft des Mäzenatentums. Ein wichtiger Aspekt von Radden Keefes Buch ist, wie die Sacklers von Beginn an ihr dynastisches Projekt mit einer groß angelegten Kunst- und Kulturförderung zu stützen versuchten.
Dazu gehörte bereits die neokolonial anmutende Sammelleidenschaft des Patriarchen Arthur Sackler, der unzählige chinesische Kunstgegenstände in seinen Besitz brachte - eine Sammlung, die später der Smithsonian Institution gespendet wurde, selbstverständlich versehen mit dem Namen des Spenders. Darüber hinaus wurden auch viele andere Museen, wie eben das Metropolitan Museum of Art oder das Guggenheim mit öffentlichkeitswirksamen Zuwendungen ausgestattet.
So konnte, wie Radden Keefe analysiert, der Name der Familie mit etwas anderem assoziiert werden, als dem Verkauf von Medikamenten. Dieses Mäzenatentum steht in einem direkten Zusammenhang mit der Art und Weise, wie die Familie sich über so lange Zeit der Verantwortung für ihre Taten entziehen konnte. Die Geschichte der Opioidkrise lässt sich also auch als ein erschreckendes Kapitel in der jüngeren Kunstgeschichte lesen, weil sie deutlich macht, wie das Prestige der Kunst verwendet wird, um Herrschaft zu legitimieren.
Dass Kunst auch diese Funktion besitzt, ist historisch keine sonderlich originelle Erkenntnis, aber die moderne Vorstellung von Kunst als Widerstand, als Verweigerungsmedium, macht es zuweilen schwer, die Tatsache anzuerkennen, dass sich bis heute Macht, Kunst und Geld in einem produktiven, fast liebevollen Verhältnis zueinander befinden. Wolfgang Ullrich hat diesen Zusammenhang in seinem Buch Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust analysiert. Darin zeigt er, wie die oft unkritische Reproduktion der Vorstellung, dass moderne Kunst immer kritisch und nonkonformistisch sein müsse, dazu geführt habe, dass das weiterhin bestehende und florierende Verhältnis von Kunst und Macht aus dem Blick geraten sei. “Insgesamt ließe sich”, schreibt Ullrich, “eine andere Geschichte der Kunst der Moderne erzählen, in der weniger Rebellion und Reinigung als die Kontinuitäten zu den vorangegangenen Epochen thematisiert würden.”
Die Geschichte der Sacklers und ihrer Opfer verweist auf diese neofeudalistische Funktion von Kunst und ihrer Institutionen. Sie konfrontiert einige lieb gewonnene Selbsterzählungen der Moderne mit der konkreten katastrophalen Tatsache, wie stark Kunst nach wie vor in die Legitimation von Herrschaft und Gewalt verstrickt ist. Die Komplizenschaft von Institution und Förderer läuft auf einen einfachen Austausch hinaus: Das Museum bekommt Geld und der Spender wird mit kulturellem Kapital ausgezeichnet, das es ihm ermöglicht, den Ursprung seines Reichtums zu verschleiern. Im Fall der Sacklers ist dieser Ursprung das massenhafte Leid der Menschen, die von ihrem Produkt abhängig wurden. Es handelt sich, folgt man den Zusammenhängen, die Radden Keefe und Gibney (ab)bilden, um tödliches Mäzenatentum.
Immerhin zeigt das Ende der Geschichte auch, wie die moderne Kunst zum Ideal ihres Nonkonformismus zurückkehren kann. Die Aktionsgruppe P.A.I.N. (Prescription Addiction Intervention Now) kämpft, wie Radden Keefe erzählt, unter der Leitung der Fotografin Nan Goldin mit Happenings und Protestaktionen dafür, die Museen von der Assoziation mit den Sacklers zu befreien. Goldin, die selbst unter einer Schmerzmittelabhängigkeit gelitten hat, nutzt die Möglichkeiten des ästhetischen Aktivismus, um die Institutionen der Kunst zu beschämen und damit von der Kontamination durch das korrupte Mäzenatentum zu reinigen. Im Februar 2019 etwa inszenierte P.A.I.N. einen Protest im Guggenheim-Museum, wo falsche Rezepte für OxyContin von der Balustrade geworfen wurden. Damit sollte der “Blizzard von Rezepten” gespiegelt werden, den Arthur Sackler für das Marketing seines Medikaments angekündigt haben soll. Vielleicht deuten sich in Aktionen wie diesen Selbstheilungskräfte der modernen Kunst an, allerdings wird man dafür wohl den Mythos verabschieden müssen, dass diese Kunst jemals frei von der peinlichen Frage sein wird, wer eigentlich dafür bezahlt.
Auch in diesem künstlerischen Fall steht wie in den zuvor genannten dokumentarischen Fällen eine Form der narrativen Aggression gegen eine institutionalisierte Form der Selbstinszenierung. Nan Goldin kämpft, mit den Mitteln der ästhetischen Aktion an derselben Front wie Radden Keefe und Gibney. Der Fall der Sackler-Familie und ihres viel zu späten Niedergangs zeigt, wie wichtig echte erzählerische Aggression auch heute noch ist. Inzwischen musste sich Purdue Pharma nach katastrophalen Niederlagen vor Gericht bankrott erklären. Die Sacklers allerdings versuchen noch immer mit allen Mitteln, ihren Namen von OxyContin zu distanzieren, indem sie, wie Radden Keefe beschreibt, Geld aus der Firma nehmen und darum kämpfen, persönlich keine juristische Verantwortung übernehmen zu müssen.
(Der Text ist die leicht überarbeitete Version eines Artikels, der am 16. September 2021 bei ZEIT Online veröffentlicht wurde)


Sehr schöner Beitrag, danke dafür, ausgedruckt und unter den Kolleg_Innen verteilt. Was hat dich bewegt ihn jetzt zu reposten? Die Mellon-Spende an Trump?