Tod der Autorin
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt.
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Harry Potter hat keine Autorin?
In der Zeitschrift "Sprache und Literatur" ist gerade ein Aufsatz von mir erschienen, der sich mit der Rolle von Autorschaft in der digitalen Öffentlichkeit beschäftigt. Wie verändert, bedroht, begünstigt das Internet Autor*innen? Müssen Schriftsteller*innen heute auch Influencer sein? Viele irritierende und spannende Beobachtungen lassen sich anschließen: Von einer Autorin, die von ihren eigenen Fans entmachtet wird, über den gefälschten Tweet eines Großautors, bis hin zum Streit über den "neuen Midcult". Den Einstieg des Aufsatzes kann man hier lesen, den ganzen Aufsatz (open source) hier.
Tod der Autorin - Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit
Die Trennung von Werk und Autor gehört zu den etablierten Dogmen der Literaturwissenschaft. Es handelt sich um eines der wenigen Theoreme, die es – vor allem über den Weg des schulischen Literaturunterrichts – zu einer großflächigen gesellschaftlichen Verbreitung gebracht haben. Im weitesten Sinne besagt es, dass man bei der angemessenen Lektüre eines literarischen Werkes von der Person des Autors absehen und sich auf die ästhetische Faktur des Textes konzentrieren sollte. Diese Forderung wird oftmals im Assoziationsraum des Schlagworts ‚Tod des Autors‘ verortet, das auf die kanonische Polemik Der Tod des Autors von Roland Barthes aus dem Jahr 1968 zurückgeht – eine Figur, die, wie Carlos Spoerhase angemerkt hat, „mehr von der Theatralität ihrer Metaphorik“ lebt, „als von der Präzision ihrer Fragestellungen und der Plausibilität ihrer Lösungsansätze“.
In der digitalen Gegenwart gewinnt der inzwischen etwas angestaubte Konflikt über die Rolle des Autors neues Leben. Die Frage nach der Geltung und Macht von Autorschaft wird in konkreten Debatten teilweise erbittert ausgekämpft. Ein spektakulärer Fall ist die Auseinandersetzung zwischen J.K. Rowling, der Erfinderin des Harry-Potter-Universums, und einem Teil ihrer Leser:innen. Seit 2019 wird Rowling vorgeworfen, sich transfeindlich zu äußern. Das begann mit Tweets der Autorin zum Konflikt um Fragen der Geschlechtsidentität und führte schließlich zu einem Essay, in dem die Autorin ihre Sicht der Dinge zu geschlechterpolitischen Fragen ausführlich darlegte. Rowlings Äußerungen stießen insbesondere in den sozialen Medien auf heftigen Widerspruch. Der Konflikt eskalierte schließlich zu einer internationalen Kontroverse, die für das öffentliche Bild der Autorin bestimmend wurde.
Die Kontroverse um Rowling bezeugt, dass es sich in solchen Prozessen der Aushandlung von Deutungsmacht um eine für die Autor:innen ausgesprochen unangenehme Erfahrung handeln kann. Leser:innen nutzten die digitale Öffentlichkeit, um sich und das geliebte Werk von der ungeliebten Autorin zu distanzieren. Dabei wurde Rowling eine recht konkrete Form des Theorems vom ‚Tod des Autors‘ zuteil. Zwischenzeitlich trendete auf Twitter sogar der rabiate Hashtag „#RIPJKRowling“, der die Autorin kurzerhand für tot erklärte. Ein weiterer Schlachtruf, der in den sozialen Medien schnelle Verbreitung fand, lautete: „Harry Potter has no author“. Auf der Videoplattform TikTok wurde unter diesem Motto der Name der Autorin öffentlich von den Covern ihrer Bücher getilgt.
Der ‚Tod der Autorin‘ im Zeichen einer Entzweiung von Publikum und Urheber:in erscheint als performativer Akt der Rezeption, der die digitale Bühne benötigt, um die Organisation der Rezipient:innen untereinander zu gewährleisten. Die Fans der Harry-Potter-Bücher wurden mit der schmerzhaften Erkenntnis konfrontiert, dass die Erfinderin ihres geliebten fiktionalen Universums in einem extremen politischen Widerspruch zu ihnen stand.
Diese Erfahrung, die sich in einer massenhaften Performanz schockierter Entgeisterung zum Ausdruck brachte, kann durch den etablierten Verweis darauf, dass man zwischen Werk und Autor trennen muss, nicht befriedet werden. Ereignisse wie der Konflikt zwischen Rowling und ihren Fans zeigen, wie stark es sich bei dieser Trennung um eine Vorschrift handelt, Teil einer präskriptiven Theorie, die mit der Realität der Rezeption oft wenig zu tun hat. Von den Fans eines Kultbuches wird eine stark abweichende politische Haltung der Autorin als reale Katastrophe erfahren, die zwangsläufig die Lektüre des Buches kontaminiert. [weiterlesen].
Ein gutes Web Comic
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Die guten Tweets
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