Narrative Geilheit
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt. Wer sich für Streitereien und Debatten über Bücher, Filme, Musik, Serien und viele andere Dinge, die uns entzweien, interessiert, der ist hier an der richtigen Stelle. Dieser Newsletter hat (noch) keine feste Form. Er ist mein Experimentierfeld für ein gegenwartsnahes Schreiben über Kultur. Ich freue mich, wenn ihr dabei seid.
Narrative Askese
Jede große Wahl in Deutschland ist auch immer eine narrative Enttäuschung, denn am Ende sind die Ergebnisse wegen einigermaßen verlässlichen Prognosen wenig überraschend, die möglichen Koalitionen wurden alle schon hundert Mal durchgespielt und die Frequenz neuer Ereignisse bleibt niedrig. Für den Echtzeitpolitikjournalismus und die Gegenwartsjunkies auf Twitter (wie mich) ist das ein Problem, denn gutes Infotainment lebt wie jede gute Erzählung von einer großen Menge an Twists und Turns, die notfalls aus peripheren Ereignissen destilliert werden müssen. Die Tatsache, dass Armin Laschet seinen Wahlzettel falsch gefaltet hatte und so seine Stimmabgabe sichtbar war, rettete Twitter am Sonntag über die leeren Stunden zwischen der Öffnung der Wahllokale und den ersten Prognosen hinweg - ein (zugegebenermaßen sehr komisches) Pseudo-Ereignis, das das narrative Vakuum der Wahl für eine kurze Zeit füllen konnte.
Moderne Öffentlichkeiten machen aus jedem noch so ernsthaften Anlass eine unterhaltsame Erzählung, die für ein genussvolles Mitfiebern aufbereitet wird. Und damit geht eine Unfähigkeit des Abwartenkönnens einher, die die mediale Nervosität befeuert, alle fünf Minuten ein neues Ereignis zu erzeugen. Ich hatte mir z.B. nach dem qualvollen Debakel der amerikanischen Wahl vorgenommen, diesmal ab 18:00 das Internet zu verlassen und erst wieder am nächsten Morgen die fertigen Ergebnisse anzuschauen, ohne die narrative Pseudo-Erzählung eines "Wahlkrimis". Aber natürlich war ich ab 20:00 wieder mit manischem Scrollen beschäftigt. Narrative Askese ist schwer.


Narrative Geilheit
True Crime hat gerade einen schweren Stand. Das liegt daran, dass immer mehr über die ethischen Probleme nachgedacht wird, die durch den narrativen Genuss des realen Leidens anderer Menschen erzeugt wird. Gerade steht die Dokumentation „Der Todespfleger – Die Morde des Niels Högel“ auf RTL in der Kritik. Offenbar hatten die Macher der Sendung den Beteiligten versprochen, dass Högel, ein verurteilter Serienmörder, nicht selbst zu Wort kommen würde - ein Versprechen, das nicht eingehalten wurde. RTL begründete das mit „der journalistischen Ausgewogenheit“, aber man kann davon ausgehen, dass im Vordergrund ein Bedürfnis stand, die weitverbreitete kulturelle Faszination mit Tätern zu befriedigen. Der Erfolg von True Crime beruht auf dem offenen Geheimnis, dass viele Menschen einen gewissen Genuss an der Erzählung realer Leiden empfinden. Das gibt zwar niemand zu und es werden immer eine Vielzahl anderer Motive für die Erzählung genannt (Aufklärung, Analyse etc.), aber der Genuss bei der Rezeption ist die uneingestandene Triebfeder dieser narrativen Produktion.
True Crime gab es natürlich schon immer, aber inzwischen ist die Erzählform aus dem Bereich des Boulevard über den Umweg des New Journalism in den Hochkultursektor übergegangen. Ein Podcast wie Serial oder eine Dokumentation wie Making a Murderer geben auch einer RTL-Sendung die höheren Weihen des kulturellen Prestiges. In diesem Fahrwasser schwimmen zahlreichen exploitativen Formate wie Zeit Verbrechen. Die interessanteste Frage an diesem Aufstieg faktualer Verbrechenserzählung ist, warum Menschen ein so großes Interesse daran haben, dass diese Erzählungen real sind. Immerhin entlastet die Erfundenheit fiktionaler Verbrechenserzählungen (Krimis) sowohl die Produzent*innen als auch die Rezipient*innen von zahlreichen (nicht allen) ethischen Problemen, die damit einhergehen, dass man sich am Leid von Menschen narrativ ergötzt. Es ist etwas anderes, ob man sich an den Verbrechen einer fiktiven Figur erfreut oder an den Taten einer realen Person.
Die gesellschaftlichen Folgen einer kulturellen Dominanz von True Crime zeigen sich im Fall von Gabby Petito, einer jungen Frau, die bescheidenen Erfolg als Influencerin hatte, bevor sie zum Opfer eines Verbrechens wurde. Seitdem beteiligen sich unzählige Menschen im Internet an einer atemlosen gemeinsamen Erzählung dieses Falles. Berit Glanz hat im Deutschlandfunk darüber gesprochen, wie True Crime hier als Social Media Trend stattfindet. Der Fall Petito ist ein Beispiel für die mitleidlose narrative Begeisterung an realem Leid. Eine Gruppe von Menschen schreibt ihren eigenen True Crime Fall, was vor allem bedeutet, dass sie sich selbst darin einschreiben. In der aktuellen Folge des Podcasts The Content Mines wird analysiert, wie der Fall dazu genutzt wurde, Reichweite und personal brand recognition zu erzeugen. Auch das ist kein neues Phänomen und erinnert an Denunziationsformate wie Aktenzeichen XY... ungelöst oder America's Most Wanted - beides Shows, die den Zuschauer*innen ein Gefühl von agency vermitteln, ohne die Distanz zu den Verbrechen, die den narrative Genuss möglich macht, aufzulösen.
Das Ganze ist natürlich auch eine Unterhaltungsindustrie mit handfesten finanziellen Interessen. Ich musste in Bezug auf den Fall Petito an einen Artikel über die Neuauflage von America's Most Wanted denken, wo einem FBI Agenten klar wird, wie viel sein Wissen über reale Verbrechen wert ist: "Da er immer noch für das FBI arbeitete, konnte er nicht bezahlt werden; stattdessen bat er die Autoren der Serie lediglich darum, das FBI in einem positiven Licht darzustellen. Zurück in Quantico, sah er zu, wie seine alten Fälle in Episoden umgewandelt wurden. 'Mir war nicht klar, dass ich Millionen von Dollar verschenkt hatte'."
Eine gute Parodie auf diesen Komplex aus Verbrechen und Genuss liefert ein Saturday Night Live Sketch, wo die erfolgreiche True Crime Sendung Dateline aufs Korn genommen wird. Die offene Geilheit des Erzählers spiegelt die unausgesprochene Motivation der Zuschauer*innen.
Falsche Genies
Ein neues Buch über den Investor Peter Thiel ist erschienen und wird viel rezensiert. Thiel ist eine ziemlich dunkle Figur, ein Veteran der Culture Wars und Unterstützer Donald Trumps. In Deutschland ging er gerade durch die Medien, weil sich die Frank-Schirrmacher-Stiftung sich dazu hat hinreißen lassen, ihm den Schirrmacher-Preis zu verleihen - eine Entscheidung, die dem Temperament des Preisträgers entgegenkommt, der seine politische Identität auf der Provokation eines vages linksliberalen Zeitgeistes aufgebaut hat. Insofern ist Thiel repräsentativ für den unfokussierten modernen Konservatismus. Gleichzeitig ist er aber auch ein wichtiger Protagonist der Mythenbildung, die sich um die Figur des genialen Gründers im Silicon Valley angelagert hat. Zusammen mit dem Autoverkäufer Elon Musk und dem Handyverkäufer Steve Jobs gehört er zum Personal einer Heldenerzählung zeitgenössischer Genies. Eine sehr gute Dekonstruktion dieser Mythen ist Arian Daubs Buch Was das Valley denken nennt: Über die Ideologie der Techbranche. Im Kontext des neuen Buchs über Thiel fand ich aber eigentlich eine Stelle aus dem Review im LRB am amüsantesten, wo es darum geht, dass Thiel zu allem Überfluss auch noch kein besonders talentierter Banker zu sein scheint:
"Doch nachdem er sein Geld in Facebook gesteckt hatte, tat Thiel sein Bestes, um es wieder herauszuholen. Im Jahr 2006 versuchte er, Zuckerberg davon zu überzeugen, das Unternehmen für 1 Milliarde Dollar an Yahoo zu verkaufen, da er überzeugt war, dass das Angebot das Unternehmen stark überbewertete. Zuckerberg lehnte ab, und Thiel veräußerte bald darauf einen Teil seiner Aktien und verpasste so den unglaublichen Reichtum, der ihm bevorstand (Facebook ist heute mehr als 1 Billion Dollar wert). Als Facebook 2012 an die Börse ging, hielt Thiel das Unternehmen erneut für überbewertet und verkaufte erneut, was er konnte. Der Aktienkurs hat sich seither verzehnfacht. Thiel, der immer auf der Suche nach Vorboten des Unheils ist, kann von sich behaupten, einer der wenigen zu sein, die den Crash von 2008 voraussahen, und er informierte seinen Investmentfonds früh über die Möglichkeit, mit Leerverkäufen in der US-Wirtschaft riesige Gewinne zu erzielen. Leider hat der Fonds wenig unternommen, und Thiel und seine Anleger verpassten ihre Chance. Dann geriet Thiel in Panik und kaufte sich Anfang 2009 in den Markt ein, weil er glaubte, das Schlimmste sei überstanden, und erlitt dann eine weitere Schlappe, als er seine Aktien abstieß, bevor die wirkliche Wende eintrat. Thiel ist kein genialer Investor. Er ist wie fast jeder andere ein nervöser Anleger, der zu Panik und Reue neigt - ein weiterer Hedgefonds-Manager, der seinem eigenen Schwanz hinterherläuft."
Die Guten Texte
Einen spannenden Artikel darüber, wie das Charisma und die visuelle und politische Kühnheit von Lil Nas X in einem Spannungsverhältnis zur musikalischen Konventionalität seiner Songs stehen, findet sich hier. Richard Brody nimmt ein neues Biopic über evangelikale Prediger auseinander und in der New York Times kann man eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Kampfbegriff "Karen" lesen.
Die guten Tweets
[tweet https://twitter.com/elhotzo/status/1441352701363646469] [tweet https://twitter.com/freudintens/status/1438824908562239490]