Medienschmerz
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt.
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Albtraumhafte Atmosphäre
Letzte Woche bin ich mit starken Schmerzen ins Krankenhaus gegangen, wo ich direkt bleiben musste, um wegen einer akuten Entzündung operiert zu werden. Ich gehe nicht ins Detail - dies ist kein autobiographischer Newsletter. Der Routineeingriff ist gut verlaufen und ich befinde mich, wie man so sagt, auf dem Weg der Besserung. "Kultur & Kontroverse" musste deswegen zwei Mal ausfallen, ist jetzt aber wieder da.
Viel konnte ich in der albtraumhaften Zeit, die man im Krankenhaus in einem Zwischenstadium von Wachen und Schlafen verbringt, nicht nachdenken, aber eine Sache, die eine seltsame atmosphärische Parallele zu meinem Geisteszustand andeutete, war der Depp/Heard-Prozess, der selbst im absoluten Ausnahmezustand einer gesundheitlichen Krise vollkommen unentrinnbar erschien. Genaugenommen ist dieser Prozess der Innbegriff des unentrinnbaren Medienereignisses und wird für Kulturwissenschaftler*innen der Zukunft, die es noch ertragen können, eine wichtige Quelle für den endgültigen Zerfall der Kultur im 21. Jahrhundert darstellen.
'Unentrinnbar' bedeutet in diesem Fall, dass das Ereignis wie ein narrativer Nebel durch alle Ritzen der Wahrnehmung gedrungen ist. Man kauft sich am Eingang des Krankenhauses einen Spiegel und das erste was man sieht, ist Depp/Heard. Man blättert im Wartezimmer durch den Bonner Generalanzeiger und findet zwischen Nachrichten über Verkehrssünder und große Schecks, die übergeben wurden: Depp/Heard. Jeder kurze Blick auf das Handy, jedes noch so flüchtige Scrollen, jeder Seitenblick auf den Fernseher ergab die Möglichkeit, sich weiter mit Depp/Heard zu beschäftigen.
Der oft albtraumhafte Eindruck, den der Medienkonsum heute oft vermittelt, ein überwältigender Ansturm disparater Bilder und Nachrichten mit extrem unterschiedlicher Relevanz, entsteht durch die unkontrollierte Form, die der Medienkonsum inzwischen angenommen hat. Ein Fall wie Depp/Heard erzeugt einen kollektiven narrativen Fressrausch, der durch nichts gezügelt wird. Dabei verschwimmen auf der Rezeptionsebene die Kategorien von Fiktionalität und Faktualität. Die Menschen wissen, dass es sich um realen Menschen handelt, konsumieren die Ereignisse aber wie erfundene Geschichten. Jörg Thomann schreibt in der FAZ: "So erklärt es sich, dass 'John C. Depp, II v. Amber Laura Heard' von vielen wie eine fiktionale Serie konsumiert wurde, mit deren Protagonisten man mitfiebern, die man aber auch hassen kann."
Das narrative Begehren, das sich im digitalen Raum entwickelt hat, ist in der Lage, aus jedem Ereignis einen Kriminalfall zu machen, den es gemeinsam zu lösen gilt - eine Geschichte mit Schurken und Helden, die sich vor allem in ihrem Identifikationspotential erschöpft. "Wie bei einem 'True Crime'-Fall", schreibt Isabella Caldart, "suchten Internetnutzer eifrig nach Indizien, die zumeist Heards Schuld beweisen sollten." Der traurige Anblick erwachsener Menschen, die für ihren Star Unmengen an Zeit und Energie investieren, um seine Unschuld zu beweisen, illustriert den Status einer verrotteten Kultur der Zuneigung.
Gleichzeitig ist der Fall auch Ausweis einer verrotteten politischen Kultur, die vor allem im geifernden kollektiven Hass gegen Amber Heard ihren Ausdruck fand. Der Prozess und die damit einhergehende Form misogyner Vergemeinschaftung gilt jetzt bereits als Backlash gegen die #metoo-Bewegung - als identitätsstiftendes Ereignis, das womöglich ähnliche Ausmaße wie im Fall von "Gamer Gate" annehmen wird. Auch das ist ein Zeichen der Zeit: dass kulturartige Kollektive in den Randbereichen scheinbar nebensächlicher kultureller Ereignisse wachsen können wie giftige Pilze. Im Podcast The Content Mines wurde der Prozess bereits als "QAnon für Millennials" bezeichnet. Dieser Umstand erzeugt wiederum eine andere Form von Unentrinnbarkeit. In dem Moment, in dem ein groteskes Ereignis politisch gefährlich wird, muss man sich damit beschäftigen, ob man will oder nicht. Dinge, die man gerade noch augenrollend weggeklickt hat, sind im nächsten Moment zu etwas Dunklem und Gefährlichem metastasiert, das einen zwingt, aufmerksam zu sein.
Über kollektives Erzählen im digitalen Raum und die Art und Weise, wie das Internet Menschen zu Hobbydetektiven macht, habe ich im Juniheft des Merkur einen Essay veröffentlicht. Darin geht es vor allem um den sogenannten "Couch Guy", einen glücklosen Studenten, der bei einem auf TikTok dokumentierten Überraschungsbesuch seiner Freundin angeblich nicht ausreichend enthusiastisch reagiert hatte, und daraufhin zum Gegenstand eines ungeheuren forensischen Furors wurde. Millionen von Menschen beteiligten sich an der Diskussion, ob Couch Guy seine Freundin betrügen würde, gar ein toxischer Mensch und Abuser sei.
Was ich über Fälle dieser Art geschrieben habe, gilt im wesentlichen auch für Depp/Heard. Die publizistische Infrastruktur des Internets hat eine ungeheure Kreativität freigesetzt, die sich in kollektiven Formen des Erzählens niederschlägt. Wo sich der erzählerische Furor an existierenden Menschen vergreift, entstehen allerdings gravierende ethische Probleme. Für die Betroffenen handelt es sich um schmerzhafte, zuweilen ruinöse Eingriffe in ihr narratives Eigentumsrecht. Man verliert die Kontrolle über die eigene Geschichte, die von einer gierigen Öffentlichkeit als spannende Erzählung konsumiert wird – mit dem Ziel, unterhalten zu werden oder sich moralisch zu erheben.
Im entgrenzten Kommunikationsraum des Internets und unter den Bedingungen des kollektiven Erzählens in den sozialen Medien gewinnt diese narrative Enteignung in beispielloser Weise an Intensität und zugleich an Reichweite. Bedeutet das auch einen Zuwachs an Grausamkeit? Wie lässt sich erklären, dass Millionen von Menschen sich mit großer Lust an einer gemeinsamen Erzählung beteiligen, deren zerstörerische Folgen ihnen eigentlich klar sein müssten? Die Antwort auf diese Frage hat möglicherweise mit der eigentümlichen Entrealisierung zu tun, die ein Mensch erfährt, der zum Meme gemacht wird. Der memetische Überbietungsgestus beruht darauf, an ein erzählerisches Muster anzuschließen und dieses Muster kreativ zu erweitern. Das passiert teilweise anhand von Bildern realer Menschen, die allerdings im Prozess des kollektiven Erzählens immer mehr an Realität verlieren. (Mehr dazu, wie gesagt, hier).
Dieser Kollaps von Wahrnehmungskategorien wird verstärkt durch die schiere Intensität der Rezeption von Nachrichten. Diese Nachrichten folgen nicht allein, und vielleicht noch nicht mal in erster Linie der Motivation, Menschen zu informieren. Im Vordergrund steht stattdessen jenes narrative Begehren, das ein Ereignis wie Depp/Heard antreibt. Eine gute Geschichte braucht Konflikt, Negativität, Antagonisten, Krisen, Katastrophen. Das erzeugt eine mediale Atmosphäre, in der - wie dieser Text aus dem Atlantic zeigt - Menschen zwar individuell recht optimistisch sind, in Bezug auf die Gesellschaft allerdings extrem pessimistisch. Eine Art "perma-gloom" habe sich, schreibt der Autor, über den kollektiven Geisteszustand gelegt:
"Durch den besseren Zugang zu Nachrichten in den sozialen Medien und im Internet werden die Amerikaner mehr als früher mit deprimierenden Geschichten überschwemmt. (Und der Nachrichtenzyklus kann wirklich ziemlich deprimierend sein!) Dies führt zu einer Art Dauerpessimismus in Bezug auf den Zustand der Welt, auch wenn wir uns eine gewisse Resilienz in Bezug auf die Dinge bewahren, über die wir die meiste Kontrolle haben. Abgesehen von den vielfältigen täglichen Herausforderungen, mit denen die Amerikaner konfrontiert sind, scheinen viele von uns an etwas zu leiden, das mit dem deutschen Begriff des Weltschmerzes verwandt ist. Es ist der Medienschmerz - eine Traurigkeit über den Nachrichtenzyklus und die Nachrichtenmedien, die sich von der Erfahrung unseres Alltags unterscheidet."
Ein gutes Webcomic
Die guten Texte
Ein vernichtender Text von Jan-Werner Müller über deutsche Verstrickungen mit Russland im allgemeinen und Gerhard Schröder im Speziellen.
Die aktuelle Papierknappheit versetzt Verlage nach wie vor in Angst und Schrecken, aber wie verhielt es sich mit Papier im Mittelalter?
Der Roman Dracula wird seit einiger Zeit als Newsletter verschickt und ist deswegen viral gegangen.
Und: ein Song.