Vor knapp einem Monat ist mein Buch “Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten” erschienen. Über die umfangreiche Resonanz habe ich mich sehr gefreut. Rezensionen sind unter anderem in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, im Falter, MDR, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in der Tageszeitung und in der Welt erschienen. Zudem durfte ich das Buch in zahlreichen Radiosendungen vorstellen - unter anderem in einem längeren Gespräch bei der Sendung “Forum” im SWR mit Melanie Möller (“Der entmündigte Leser”) und Jens-Christian Rabe (“Süddeutsche Zeitung”).
Nun findet diese Woche die Premierenfeier zum Buch statt, zu der ich noch einmal herzlich einladen möchte. Am 7. November werden Wolfgang Ullrich und ich um 19:30 in der Urania in Berlin über Geschmack und Streit, Wut und Ästhetik reden und darüber, warum diese Konflikte in der Gegenwart besonders heftig eskalieren. Danach gibt es vor Ort einen Umtrunk. Ein Ticket kann man sich hier sichern.
Derweil gehen die Konflikte über Kunst und Kultur, die ich in meinem Buch analysiert habe, unvermittelt weiter (Danke für den Hinweis an Magda Birkmann). Gerade wurde der Büchnerpreis an den Lyriker Oswald Egger verliehen, eine Nachricht, die auch auf dem Instagram Kanal der Kultursendung “Titel Thesen Temperamente” gepostet wurde, zusammen mit einem Zitat aus dem Gedicht “Neumen, Unwelt, Korollar”, das klar in der Tradition modernistischer Formexperimente steht. Die Naturbeschreibungen werden in einer komplexen, verrätselten Sprache vorgetragen, die von Referenzen auf biologische Wissensbestände und Fachsprachen durchzogen ist.
In den Kommentaren zum Gedichte kommt Irritation zum Ausdruck. Eine Person schreibt: “Also ich dachte, ich kann deutsch. Aber ich verstehs nicht.” Andere schreiben einfach nur: “Krawehl, Krawehl!” Oder: “Loriot lebt!” Worauf eine andere Kommentatorin erwidert: “Ich sah es vor mir beim Lesen. ‘Taubtrüber Ginst am Musenhain..’” Wieder eine andere Person hinterlässt den Ausruf: “Huuuurz”.
Was sich hier vollzieht ist ein Prozess, den ich in meinem Buch ausführlich am Beispiel eines Falles aus dem Jahr 2023 analysiert habe. Damals hatte die Lyrikerin Judith Zander den Peter-Huchel-Preis gewonnen, was der SWR Kultur auf Facebook bekannt gab, wieder mit einem Zitat aus einem Gedicht, das ebenfalls in den Bereich modernistischer Naturlyrik fiel. In diesem Fall führte die Publikation zu einem regelrechten “Shitstorm”. Hunderte unverständige, teils beleidigende Kommentare wurden hinterlassen, dabei auch immer wieder “Krawehl” und “Hurz”.
Man kommt dem plötzlichen Ausbruch der ästhetischen Wut auf die Spur, wenn man sich die Wortmeldungen zu Zanders Gedichte auf Facebook genauer anschaut. So heißt es in einem der Kommentare: “Tja, ich verstehe das Geschriebene nicht. Obwohl ich sonst Gedichte gerne lese …” In einem anderen Kommentar wird beklagt: “Vielleicht ist das hohe Sprache, vielleicht verstehen das dann eben nur wenige und vielleicht soll es auch nur zur Diskussion anregen. Ich hab daran keine Freude.” Wiederum in einem anderen wird die Irritation über den Text auf der Ebene des Sprachregisters zum Ausdruck gebracht: “Ich kann ganz gut mit Worten und begreife schnell. Aber ich check da null.”
Was hier, wie im Fall Oswald Eggers, zum Ausdruck kommt, ist eine kulturelle Demütigungserfahrung. Man wird mit einem Text konfrontiert, der mit dem hohen Prestige einer institutionellen Auszeichnung ausgestattet wurde, der aber gleichzeitig auch die Verständnisfähigkeiten der meisten Leser:innen überfordert. Im digitalen Raum fallen nun die verschiedenen Lebenswelten verschiedener Rezipientengruppen zusammen - es kommt zum Konflikt. “Krawehl” und “Hurz” dienen in diesen Fällen als Kampfschreie der digitalen Abwehr einer Hochkultur, die als aufdringlich und demütigend empfunden wird, die gleichzeitig aber auch den Anschein eines großangelegten Betrugs macht.
“Krawehl” bezieht sich auf eine Szene, aus Loriots Film “Pappa ante portas”, in dem in der Figur des Schriftstellers Lothar Frohwein die Prätentionen der Hochliteratur parodiert werden. “Hurz” dagegen kennt man aus einer satirischen Aktion von Hape Kerkeling, in der die Gutgläubigkeit des Hochliteraturpublikums vorgeführt wurde. In beiden Fällen erscheint der Bereich bildungsbürgerlicher Ansprüche als eine Form des leeren Elitenverhaltens, das die eigene Kultur nur noch als Habitus pflegt und selbst gar nicht mehr versteht.
Interessant ist vor allem, dass sich aus dem Film und der satirischen Aktion zwei Schlagworte entwickelt haben, die bis heute die Perspektive auf Hochkultur prägen und dazu dienen, mögliche kulturelle Exklusionserfahrungen abzuwehren. An diesen Beispiel zeigt sich, wie der Statuskampf um Hochliteratur in der Gegenwart geführt wird. Diese Zusammenhänge werden in Kapitel 8 von “Wut und Wertung” (“Lyrik als Demütigung. Rezeption und Rache”) ausführlich und anhand zahlreicher Beispiele beschrieben. Interessant ist vor allem, dass sich die digitalen Statuskämpfe um “High” und “Low” immer wieder ausgerechnet an Lyrik entzünden.
Herrjeh. Wie kann man mit einer "Ich versteh alles!"Mentalität an etwas herangehen, das sich bewusst jedem Verständnis verschließt, und dann wütend werden?
"Ich versteh es nicht!" ist keine Beleidigung und wird es auch gut, wenn man es wütend sagt. Es spricht doch nichts dagegen, krawehl zu sagen oder hurz und die Sache als erledigt zu betrachten. Vielleicht, wenn man wirklich klug ist, fällt einem sogar ein eigenes Wort ein, so dass man nicht Loriot oder y Kerkeling zitieren muss.
Aber an der Fähigkeit, Dinge einfach mal stehen zu lassen mangelt es überall, und man löst das Problem nicht, indem man selbst auf diese Fähigkeit verzichtet. Somit bin ich auch gescheitert. 🤷