Literatourismus als Geisterbahn
Eine Serienkillerkneipe als Gegenstand der Kulturwissenschaften?
Wenn euch dieser Newsletter gefällt, könnt ihr ihn auf folgende Arten unterstützen. 1. Empfehlt ihn weiter oder teilt ihn auf den Sozialen Medien. 2. Unterstütze ihn per Paypal oder schließt ein Abo ab. Weitere diskutieren oder auf alle Texte zugreifen, kann man im 54books-Discord.
Ein grausiges Disneyland
Kunst und Leben stehen manchmal in einem sehr seltsamen Verhältnis zueinander. Vor ein paar Wochen schickten mir Freunde, die in Hamburg zu Besuch waren, Bilder von der Kneipe „Zum Goldenen Handschuh“, die durch den Roman von Heinz Strunk deutschlandweit berühmt gemacht wurde. Die Kneipe war der Ort, wo sich der Serienmörder Fritz Honka in den 1970er Jahren aufhielt und wo er auch einige seiner Opfer kennenlernte. Was mir bisher nicht klar war, ist, dass die Kneipe sich tatsächlich auch „Honka-Stube“ nennt, mit einem Schild direkt über der Tür.
Die Transparenz, mit der hier der Mord an vier Frauen zu Marketingzwecken eingesetzt wird, bietet ein weiteres Beispiel für die frivole Faszination für Serienkiller, die in den letzten 50 Jahren zu einer Kultfigur des modernen Erzählens aufgestiegen sind. Honka stattet den Ort mit einem Grusel aus, der eine spezifische Form von Frauenhass, Alkoholismus und Armut nostalgisch verbrämt, die mit einer ironischen bundesrepublikanischen Ästhetik verbunden wird. Die kultige Absteigerkneipe, die Reeperbahn, die Kaschemme etc. – all das wird durch die Figur Honkas narrativ zugespitzt und aufgewertet. Alena Schröder hat das naheliegende ethische Problem dieser Form des Erzählens in einer Kolumne von 2019 zum geschmacklosen Marketing des Films Der goldene Handschuh analysiert:
„Es ist eben ein Unterschied, ob man einen Gruselschocker über einen fiktiven Serienmörder dreht, oder ob man aus dem realen Leid von Frauen ein Stück Sankt-Pauli-Folklore macht. Fritz Honka war eine echte Person, seine Opfer waren echte Frauen, und sie wurden auf brutale Art und Weise umgebracht. Nichts daran ist ‚kultig‘, nichts daran sollte für eine schale Pointe herhalten müssen.“
Diese Probleme sollten eigentlich offensichtlich erscheinen, und doch ist und bleibt gerade diese Kneipe ein ausgesprochen produktives und erfolgsreiches narratives Großunternehmen. Inspiriert wurden nicht nur ein Roman und ein Film - der Ort gehört auch zur touristischen Erzählung über die Stadt Hamburg. Gleichzeitig wird er aber auch als Ort verklärt, in dem tausende von Geschichten produziert werden, und natürlich gibt es Merch. Dieser Zusammenhang bietet eine Menge Stoff für eine kultursoziologisch geprägte Narratologie des Alltags, die Produktion und Rezeption von Geschichten in den Blick nimmt, die von nicht-professionellen Leser:innen rezipiert und verbraucht werden.
Zu den erzählerischen Genres, die dieser Ort hervorgebracht hat, gehören etwa auch die peinlichen journalistischen Berichte über ethnologische Streifzüge in die böse Kneipe, wo der Serienmörder sich herumtrieb. Diese Texte tragen Titel wie „Eine Nacht in der Kneipe von Frauenmörder Fritz Honka“ (Abendblatt) oder „Was man in der Kneipe des Frauenmörders alles erlebt“ (Stern). Erzählt sind sie im maskulinen Stil der Reportagen Moritz von Uslars, der die Figur des Journalisten als furchtloser Kneipenbesucher etabliert hat. Der Ton, in dem diese Texte erzählen (Uslar würde sagen der „Sound“), ist bekannt und zeichnet sich vor allem durch die Verlässlichkeit aus, mit der die üblichen „Originale“ vorgeführt werden:
„Der kleine gebückte Mann, nennen wir ihn mal „Draufi“, weil er voll drauf ist, tanzt seit einer Stunde zitternd und mit den Armen rudernd durch das Lokal, in der linken Hand eine Schachtel John Player Special, in der rechten ein Astra. Aus der Jukebox schallt der Hit „Panda“ von Desiigner, und „Draufis“ Kopf ruckt einem Huhn gleich hin und her, dann zu uns.“
Wie eine altmodische Jukebox spuckt die Kneipe die immergleichen golden oldies aus: Figuren, die diminutive Spitznamen haben, die versoffen und fertig, aber irgendwie liebenswürdig sind, so kaputt und authentisch wie das Leben selbst. Solche Texte partizipieren in diesem Fall vom doppelten narrative Potential des Ortes, sie sind einerseits durch die Figur Honka mit dem Grauen einer spannenden Geschichte aufgeladen, andererseits mit dem Prestige des Literarischen.
Durch den Roman Der goldene Handschuh ist die Kneipe auch zu einem Ort des Literatourismus geworden. Dieses Phänomen hat Raphaela Knipp in ihrem Buch Begehbare Literatur untersucht. Menschen feiern etwa am 16. Juni den „Bloomsday“, der sich auf die Schauplätze des Romans Ulysses bezieht, oder sie schlendern durch das Buddenbrooks-Haus in Lübeck. Oder man nimmt Teil an einer kuratierten Wanderreise zu den Schauplätzen der Eifelkrimis von Jacques Berndorf. Diese Krimis werden in der Produktbeschreibung als „Reiseführer der anderen Art“ beschrieben: „Hier werden fiktive Leichen drapiert und Verbrecher gejagt…“
Fälle wie diese fordern die klassische Fiktionstheorie, die an Universitäten und Schulen unterrichtet wird, heraus. Die Autonomie der Literatur verbietet es eigentlich, dass Romane als „Reiseführer“ verwendet werden. Ein Phänomen wie Literatourismus zeigt allerdings, dass nicht-professionelle Leser:innen sich generell nicht an die Regeln halten, die in den Laboren der Theorie entworfen werden. Menschen identifizieren sich mit den fiktionale Welten, in die sie in ihrer Freizeit eintauchen auf eine Art und Weise, die so intensiv werden kann, dass man sich körperlich dort aufhalten möchte. Die Grenzen der Fiktionalität werden so ständig überschritten. Von diesem Bedürfnis leben auch Themenparks wie Disney Land, The Wizarding World of Harry Potter oder Ghibli Park, die zumindest ansatzweise die grundsätzliche Enttäuschung darüber auffangen sollen, dass eine geliebte fiktionale Welt nicht real ist.
Auch die „Honka-Stube“ ist durch den Roman zu begehbarer Literatur geworden – ein schmieriges, grausiges Disneyland für Erwachsene, die sich dem Grusel aussetzen wollen, den bereits der Roman (und dann der Film) evoziert hat: Literatourismus als Geisterbahn. Es handelt sich allerdings um einen Sonderfall, weil das narrative Potential des Ortes nicht erst durch die Fiktionen erzeugt wurde, sondern schon vorher existierte. Der Mythos Honka hatte die Kneipe bereits mit der Dignität einer faszinierenden Geschichte aufgeladen, bevor dieser Mythos dann in den Roman übertragen wurde. Es kommt in diesem Fall also zum gewinnbringenden Austausch narrativer Potentiale und damit auch zu einer gewissen Konkurrenz. (Wie der Fall in Strunks Roman zu Literatur und der Autor zu einem Literaten gemacht wurde, ist noch einmal eine andere Geschichte, die Thomas Wortmann hier untersucht hat.)
Auf der Internetseite hamburgtourist.info etwa wird die “Kultkneipe” als eines der “Highlights von Hamburg” bezeichnet. Hier, im “Wohnzimmer von Fritz Honka” treffe man alles was den Kiez ausmacht: “Von der Putzfrau über den Hafenarbeiter bis hin zum Millionär ist alles vertreten. Verlorene Seelen erzählen Ihnen ihre Geschichte, ob Sie diese nun hören möchten oder nicht. Meist lohnt es sich aber, die Ohren zu spitzen.” Was man hier erfahren könne, das gäbe es in keiner Zeitung und in keinem Buch zu lesen und in keiner Dokumentation zu sehen. “Das pure, echte Leben” lerne man nur hier kennen, “ungeschminkt und direkt.”
Verräterisch ist vor allem die Insistenz darauf, man könne hier Dinge erfahren, die Bücher und Dokumentationen nicht zu liefern in der Lage sind, denn natürlich ist auch den Autor:innen dieses Textes bewusst, dass die Kneipe selbst ihren Status durch die Geschichten erhalten hat, die über sie erzählt wurden. An sich handelt es sich um eine normale schmierige Eckkneipe, wie sie in Deutschland zu tausenden existieren, ohne als Wohnzimmer berühmter Serienmörder zu mythischen Orten aufgewertet zu werden.
Hier ergibt sich auch ein Interessanter Widerspruch. Denn einerseits laden die Orte der Literatur dazu ein, sich in der Welt der Fiktion aufzuhalten, an der Fiktion zu partizipieren; andererseits versprechen diese Orte eine Authentizität, die der Literatur überlegen ist. Das unterscheidet die Honka-Stube von ähnlichen Phänomenen wie „Bloomsday“ oder Disney Land. Diese Orte reagieren zwar ebenfalls auf das Rezeptionsbedürfnis, die Orte populärer Erzählformate aufzusuchen; allerdings stehen sie in keiner narrativen Konkurrenz zu den Universen, auf denen sie beruhen. Sie sind begehbare Verlängerungen der Erzählung. Die Honka Stube dagegen beruft sich auf eine reale Geschichte, an der verschiedene narrative Unternehmen partizipieren wollen.
They did it again
Nachdem das Bundesministerium für Bildung und Forschung durch ein unfassliches Erklärvideo zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz die Bewegung #ichbinhanna provoziert hatte, hätte man denken können, dass der Bedarf an verunglückten Videos erst einmal gedeckt ist. Das scheint aber nicht der Fall zu sein, wie der Zorn über dieses neuerdings in den Sozialen Medien herumgeisternde Video über “Research Wonderland” Deutschland zeigt.
Ein guter Webcomic
Vermischtes Unkraut auf dem literarischen Feld
Viel geschmunzelt wurde im Internet und in der FAZ über den Professor, der in der der NZZ sein eigenes Thomas-Mann-Buch überschwänglich lobt - ein Lob, das es auch als Blurb auf die Verlagsseite geschafft hat. Ein unglaublicher Abschnitt aus dem neuen Roman von Juli Zeh macht auf Twitter die Runde und lässt die Vermutung aufkommen, dass die Autorin noch nie auf Whatsapp gewesen ist. Zur Empörung des Reclam-Verlages (der einen der besten Twitterverlagsaccounts hat) unterhalten sich Menschen hier darüber, was sie mit ihrer langweiligen Schullektüre gemacht haben.
Die guten Texte
Abnehmen ohne Ende. Ein neues Arzneimittel für Diabetes wird in der amerikanischen Elite als Wundermittel zum Abnehmen gehandelt.
Das Gegenteil von Bilderstürmerei. Wolfgang Ullrich schreibt im Tagesspiegel über die umstrittenen Aktionen der “Letzten Generation.”
Pöbelnde Professoren. Simon Strick und Johanna Schaffer schreiben (ebenfalls im Tagesspiegel) über das unerträgliche Netzwerk Wissenschaftsfreiheit.
Die guten Tweets
Mein neuer Lieblingspodcast
Keep reading with a 7-day free trial
Subscribe to Kultur & Kontroverse to keep reading this post and get 7 days of free access to the full post archives.