Kultursoziologie des digitalen Verrats
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt.
Wenn euch dieser Newsletter gefällt, könnt ihr ihn auf folgende Arten unterstützen. 1. Empfehlt ihn gerne weiter oder teilt ihn auf den Sozialen Medien. 2. Unterstütze ihn finanziell und zwar für nur 4 Euro Pro Monat. Oder per Paypal. Falls einer der Texte, um die es hier geht, beim besten Willen nicht aufzutreiben ist, schreibt mir gerne. Ich freue mich auch über Rückfragen und Feedback.
Ich arbeite gerade an einem Text über den Fall des "Couch Guy", der Ende letzten Jahres zum Opfer unzähliger Amateurdetektive auf TikTok wurde. Hatte er seine Freundin betrogen? Ist er gar ein Gaslighter oder Abuser? Anlass war ein kurzes Video von einem Überraschungsbesuch seiner Freundin, in dem er angeblich nicht früh genug aufgestanden war. Und was war mit den verdächtigen Frauen neben ihm auf dem Sofa? Inzwischen hat der "Couch Guy" sich zu Wort gemeldet: Es stellte sich heraus, dass es keine angenehme Erfahrung ist, zum Gegenstand von „True Crime in Echtzeit“ zu werden.
Ein übergeordnetes Thema, in das sich auch dieser Fall einordnen lässt, ist die Debatte darüber, ob die Digitalisierung eine neue entfesselte Form des Public Shaming hervorgebracht hat. In der Diskussion darüber, ob das Internet ein Segen oder eher ein nicht enden wollender Fluch ist, spielen der 'Shitstorm', der 'Online-Pranger', der 'Pile-On', die 'Dunking-Kultur' etc. eine wichtige Rolle. Kaum irgendwo sonst verdichten sich die Ängste in Bezug auf den neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit stärker. Das liegt zum einen daran, dass diese Begriffe dazu dienen, die Panik vor einer Öffentlichkeit in Worte zu fassen, die nicht in den etablierten Medien stattfindet. Zum anderen liegt es aber natürlich auch daran, dass es sich um eine tatsächlich bedrohliche Alltagserfahrung handeln kann.
Jon Ronson erzählt in seinem sehr lesbaren und einfühlsamen Buch So you've been Publicly Shamed, wie die Erfahrung des Shaming auf Betroffene wirkt, ohne dabei in dumpfe anti-digitale Kulturkritik zu verfallen. Nicht jede Kritik im Internet ist ein Shitstorm und nicht jede Form von öffentlicher Entrüstung ist schlecht. Es gibt allerdings eine Entwicklung hin zu einer spezifischen Form des individuellen Shaming, die vor allem nicht-öffentlich agierende Einzelpersonen betrifft (soweit man heutzutage überhaupt nicht-öffentlich sein kann). Es handelt sich um Tendenzen, die durch die Pandemie verstärkt wurden, wie D.T. Max in diesem Essay zeigt. Inzwischen geht das so weit, dass es ganze Internetseiten gibt, die Fälle von Impfgegnern sammeln, die an Covid gestorben sind, um sich über sie lustig zu machen.
Die Mechanismen dieser Ereignisse sind einigermaßen ritualisiert, scheinen mir aber noch nicht ausreichend erforscht. Das mag daran liegen, das der Zusammenhang zwischen strukturellen und individuellen Faktoren nach wie vor ziemlich unüberschaubar wirkt. Katherine Cross schreibt in ihrem Text über Online Harassment: "Letztendlich verdrehen Online-Mobbing-Kampagnen Fragen der persönlichen Verantwortung und Tugendhaftigkeit in seltsame Formen und machen sie oft unwichtig. Eine Kampagne braucht Menschen, die sich daran beteiligen, aber wie bei Agatha Christies Mördern im Orient-Express weiß niemand, wer in der Menge den tödlichen Schlag ausführt."
Über diesen Text bin ich auf das Webcomic Piled On von Mallorie Udischas-Trojan gestoßen, das auf ziemlich herzzerreißende Art eine persönliche Erfahrung mit Online-Harassment verarbeitet. Der Anlass war, wie so oft bei solchen Ereignissen, ziemlich nichtig: ein offensichtlich fiktionaler Comic darüber, wie sie Kunst-Utensilien klaut. Wer sich auch nur ein wenig im Internet aufhält, wird wissen, wie die Geschichte weitergeht. Das Comic wurde als Anlass für eine emotional aufgeladene Diskussion über Ladendiebstahl verwendet und damit schnell zur Bühne für allerlei andere Kämpfe, die undefiniert und vage, aber mit großer Intensität durch die digitale Sphäre wabern. Gleichzeitig wurde das Ereignisse (auch das ist typisch) zu einem Vehikel für den Abbau von Aggressionen, die sich mit Vorliebe gegen Menschen mit Diskriminierungserfahrungen entladen.
Der Moment, der ein solches Aggressionsereignis zu einer absolut verletzenden Erfahrung macht, ist eindrucksvoll in diesem Panel festgehalten:
So lange die Angriffe "nur" von außen kommen, wird die eigene Identität zwar bedroht (und das teilweise auf existentielle und physische Art), aber der Moment der ersten Verletztheit kommt für die meisten Betroffenen vor allem in dem Moment, in dem sich Menschen gegen sie wenden, von denen sie dachten, man wäre im selben Team, Teil einer Gruppe, eines Milieus etc. Das kann durch achtlose Likes passieren oder einen vollumfänglichen Outcall.
Ich habe den Eindruck, dass die Momente echter Bitterkeit in diese Ereignisse dann Einzug halten, wenn sie zu Anzeichen dafür werden, dass die Struktur der eigenen Peer Group ganz anders aussieht, als man das selbst eingeschätzt hat. Die digitale Öffentlichkeit lebt, wie alle Öffentlichkeiten, von Gruppenbildung und der konfliktreichen Abgrenzung kollektiver Identitäten. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt kann das sogar angenehme Emotionen erzeugen, wenn man sich gemeinsam gegen etwas zur Wehr setzt oder gegen etwas vorgeht. Aber sobald der Konflikt in den Bereich der konstruierten In-Group einbricht, werden die Kämpfe mit der Intensität ausgekämpft, die nur ein gebrochenes Herz erzeugen kann.
Diese Intensität lässt sich auch dadurch erklären, dass Kämpfe in dieser Gruppe auf der Basis eines geteilten Wertesystems stattfindet, und es fühlt sich bedeutend bedrohlicher an, wenn einem Vorwürfe gemacht werden, deren etische Grundlage man teilt. Was fehlt, ist eine Kultursoziologie des digitalen Verrats. Wie manifestiert sich dieser Verrat, wie lassen sich die negativen Emotionen analysieren, die er auslöst. Reicht ein Like einer negativen Äußerung gegen dich, oder muss es ein Retweet sein? Wann manifestiert sich durch diese Praktiken ein Riss in der sozialen Struktur einer Bubble? Wie ist diese Bubble überhaupt strukturiert etc.
Wer bezahlt für den Einfluss?
Diese Woche hat das ehrwürdige Harper's Magazine heftigen Ärger für eine Stellenausschreibung bekommen, in der die Stelle eines Assistant Editors in New York City mit 40.000 Dollar entlohnt werden sollte. Der Tweet mit der Ausschreibung hat einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen, der die allgemeine Frustration über die Ausbeutung in kulturellen Berufen zum Ausdruck bringt. Ein kultureller Beruf, der offenbar, wenn es läuft, ganz gut bezahlt wird, ist übrigens Influencer*in. Hier wird das Geschäftsmodell einer Van-Life-Influencerin auf eine anschauliche und unaufgeregte Art aufgedröselt.
Ein gutes Webcomic
Nachträge
Über die letzten Wochen haben sich einige Themen ergeben, die einfach nicht aufhören, neue Konflikte zu erzeugen. Aber es wäre auch langweilig, über längere Zeit die immergleichen Probleme zu behandeln. Deshalb möchte ich hier mit der Rubrik "Nachträge" experimentieren. Letzte Woche ging es etwa um den Ärger, der durch Joe Rogans Podcast auf Spotify für die Plattform entstanden ist. Dieser Konflikt hört nicht auf zu brennen. Inzwischen ist ein Supercut von Momenten aufgetaucht, in denen Rogan das N-Wort verwendet. Auch Will Butler, der Front-Mann deiner Lieblingsband in den 2000er Jahren, hat sich zu Spotify geäußert. Der Musikkritiker des New Yorker hingegen freut sich, Spotify leiden zu sehen. Und: Liegt das Problem vielleicht darin, dass Podcasts keine semi-privaten Unterhaltungen mehr sind, sondern Big Business? Vor ein paar Wochen ging es hier um die Ausfälle des Philosophen Giorgio Agamben, der in seit Beginn der Pandemie immer seltsamer und ausfälliger wird. Peter Neumann widmet sich nun dem Missverständnis seines Ruhms. Schließlich: In dieser Ausgabe ging es um die Kriminalgeschichte der Literatur in der Gegenwart und unter anderem um den Fall des Manuskriptdiebs Filippo Bernardini, dem hier nun ein ausgiebiges Porträt gegönnt wurde.
Die guten Texte
Wer war Maria Montessori? Ein neues Buch wird hier rezensiert. Warum ist der Song "We Don't Talk About Bruno" aus dem neuen Disney Film Encanto ein Hit? Hier werden verschiedene Theorien aufgestellt. Zudem: Eine neue Serie über Pamela Anderson verfehlt ein Ziel, das sie nie ernsthaft hatte.
Und: ein Song.
Die guten Tweets
[tweet https://twitter.com/ChrisHewitt/status/1490803701103144969] [tweet https://twitter.com/nilu_minati/status/1491382347136397312]