Kriminalgeschichte der Literatur
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Schreiben wie ein Fan
Diese Woche habe ich einen spannenden Aufsatz zum Thema "Amateur Creativity" gelesen. Die Autorin Aarthi Vadde analysiert darin den Aufstieg des Amateurs als Figur im digitalen Literaturbetrieb. Was hat es damit auf sich? Durch das Internet haben Amateure die Produktionsmittel an die Hand bekommen, die eigene Kunst und die eigene Meinung über Kunst zu veröffentlichen, und das obwohl ihnen oft die Ausbildung fehlt, die ihrer Tätigkeit das Prestige des Professionellen verleihen würde. Vadde fasst diese Entwicklung folgendermaßen zusammen:
"Es ist mittlerweile zur Routine geworden, dass das Internet jeden zur Kritiker*in und noch viel mehr gemacht hat. Social-Media-Plattformen und Softwarepakete haben Amateure in Fotograf*innen, Grafikdesigner*innen, Journalist*innen und Autoren*innen verwandelt, deren Fangemeinde mit den Profis in diesen Bereichen konkurriert. Die Leichtigkeit und Allgegenwärtigkeit des digitalen Publizierens haben die 'Massenamateurisierung' der kritischen, kreativen und kommunikativen Künste ermöglicht, die es Amateuren erlaubt, die Gatekeeping-Praktiken spezifischer Institutionen (z. B. der Galerie, der Zeitung, des Verlags) zu umgehen und fotografische, journalistische oder schriftstellerische Leistungen zu erbringen, ohne sich notwendigerweise mit einer spezialisierten Zunft zu identifizieren oder von deren Ressourcen zu profitieren."
Eine Frage, die Vadde zu beantworten versucht, ist, wie sich vor diesem Hintergrund das literarische Feld verändert hat. Vor allem: Wie reagieren professionelle Akteur*innen auf den Siegeszug des Amateurismus? Durch die Digitalisierung ist nämlich das Machtverhältnis zwischen Produktion (denen die Content machen) und Rezeption (denen die Content konsumieren) durcheinander gebracht worden. Die Entwicklung geht weg von einer "Read-Only"-Kultur hin zu einer "Read-Write"-Kultur. Damit ist eine Kultur gemeint, in der Rezeption sich viel aktiver gestaltet, etwa in Form von Fan-Fiction, die populäre Universen wie "Harry Potter" oder "Herr der Ringe" weiterschreibt.
Dazu gehört meines Erachtens aber auch die Amateur-Kritik, oder besser das Amateur-Feuilleton, das sich auf Seiten wie Goodreads oder Amazon (und eben auch auf Twitter) abspielt. Dieser Diskurs entsteht in Reaktion auf die Rezeption von Kultur, als Ausdruck einer produktiven Form der Rezeption also. Diese Rezeption unterscheidet sich natürlich von dem, was wir als kanonische Form des Lesens kennen, nämlich das stille Alleinelesen im Sessel, das passive und konzentrierte Lesen, das uns im besten Fall unterhalten und belehrt zurücklässt. In dieser Wirkung erschöpft sich dann aber auch die Erfahrung. Dazu gehört dann eigentlich nicht, danach ins Internet zu gehen, und die Geschichte weiterzuschreiben oder unsere Meinung dazu auf irgendeiner Plattform zu veröffentlichen.
Die "Read-Write"-Kultur des digitalen Lesens grenzt sich von dieser etablierten Vorstellung ab. Vadde fasst das in diesem schönen Satz zusammen: "Wenn Amateure ihr Vergnügen erkunden, erklären und vor anderen verteidigen, wird das Vergnügen zu einer Erfahrung, die durch den Dialog verbessert wird." Eine Erfahrung, die durch Dialog verbessert wird ("experience enhanced by dialoge") - das steht in einem starken Widerspruch zu den ständigen kulturkritischen Klagen darüber, wie die Digitalisierung den Diskurs zerstört. Gerade der Blick auf den ungeheuren Energieschub, den die "Amateur Creativity" durch das Internet erhalten hat, bietet ein gutes Gegenbild zu düsteren kulturellen Prognosen. Das heißt nicht, dass man die dunklen Seiten dieser Entwicklung ausklammern sollte. Diese Kritik gibt es aus einer eher linken Perspektive vor allem als Diagnose der Ausbeutung und Kommerzialisierung von Amateuren durch die Plattform-Ökonomie. Aus einer konservativen Perspektive werden eher die Probleme einer anarchischen/entgrenzten Öffentlichkeit in den Blick genommen.
Beide Kritiken haben durchaus ihre Berechtigung. Allerdings zeigt ein Aufsatz wie der von Vadde, dass eine Konzentration auf die produktiven Seiten der Digitalisierung mehr Energie ins Feuilleton und in die Kulturwissenschaften bringen kann als das immergleiche Gejammer. Einen Aspekt, den ich in dieser Hinsicht besonders spannend fand, war das Konzept des "professional amateurism". Damit ist die Vermischung von professioneller Autorschaft mit Elementen des Amateurismus gemeint. Vadde nennt als Beispiel die Selbstinszenierung Elena Ferrantes, die ihre Anonymität dazu nutzt, den klassischen Karriereweg einer berühmten Autorin zu unterlaufen.
Das Beispiel erscheint mir nicht ganz einleuchtend. Das Konzept "professioneller Amateurismus" aber finde ich hilfreich, um einige Aspekte von Autorschaft in der digitalen Gegenwart zu analysieren. Der Science Fiction Autor Cory Doctorow etwa verschenkt, wie ich aus dem Aufsatz erfahren habe, seine E-Books und schreibt sich damit in die "gift-giving"-Ökonomie (die Geschenkökonomie) der Amateurkultur ein. Gleichzeit gehört dazu, als Fan für Fans zu schreiben. Dazu gehört allerdings auch eine spezifische Form der Nähe von Autor*in und Publikum, wie sie auf Social Media zu beobachten ist, wo Urheber*innen als Influencer*innen ihrer selbst auftreten. Das macht sie natürlich nicht weniger professionell, gibt aber ihrer professionellen Autorschaft einen Teil der Energie des Amateurismus.
Kriminalgeschichte der Gegenwartsliteratur
Die Literatur war schon immer ein Feld, in dem Gauner, Diebe und Trickbetrüger leichtes Spiel haben. Das mag daran liegen, dass Literatur - wie alle Künste - Schwierigkeiten hat, ihren Wert zu bestimmen. Dieser Wert kann z.B. ökonomisch gering, aber kulturell hoch sein, was dazu führt, dass Menschen eine Menge kriminelle Energie für relativ geringen finanziellen Gewinn entwickeln. Wie anders ließe sich die Karriere des sagenumwobenen Herrn Urban erklären, der seit einiger Zeit Buchhandlungen in ganze Deutschland in Aufregung versetzt, indem er versucht, dort Bücher, die er anderswo geklaut hat, wieder umzutauschen? Die Buchhändlerin Magda Birkmann, deren tollen Newsletter man hier abonnieren kann, ist Augenzeugin und eine der größten Urbanologinnen Deutschlands. Was aber treibt Herrn Urban an? Man kann dieses extrem unlukrative Verbrechen wohl kaum erklären, ohne von einer pathologischen und fehlgeleiteten Form der Bibliophilie auszugehen. Anna Vollmer hat hier über Herrn Urban geschrieben.
Erwischt wurde dieser Tage auch endlich der Mensch, der seit einiger Zeit mit falschen E-Mails unveröffentlichte Manuskripte von berühmten Autor*innen ergaunern wollte. Ich kann mich noch daran erinnern, mit wie viel Spannung ich im Sommer letzten Jahres diese Geschichte aus dem New York Magazine gelesen habe, in der allerlei Mutmaßungen über die Motive des Täters angestellt wurden, der sich offenbar gut in der Verlagswelt auskennen musste, denn seine Tricks, um an den neuen Larsson oder Atwood zu kommen, beruhten auf Insiderwissen. Die Autor*innen des Artikels kommunizierten sogar mit dem Dieb und versuchten (vergeblich), den Betrüger zu betrügen. Was ich aus diesem Essay übrigens gelernt habe, ist, dass es im Literaturbetrieb die Funktion des "Literaturscouts" gibt, der für seine Kunden so früh wie möglich in Erfahrung bringt, welche Manuskripte kursieren:
"Der Verdacht fiel schnell auf die Literaturscouts, deren Aufgabe es ist, sich frühzeitig Zugang zu Büchern zu verschaffen, um ausländische Verlage und Hollywood-Studios zu beraten, ob sie die Rechte kaufen sollen. 'Wir sind der Geist in der Verlagsmaschine', sagt Jon Baker, der als Scout arbeitet. 'Wenn dich jemand wahllos nach etwas fragt, das demnächst erscheint, dann ist es ein Scout'. Der Job erfordert, dass man Bücher findet, die dem Geschmack des Kunden entsprechen - ein deutscher Verlag, der historische Romane sucht, ein Streaming-Dienst, der starke Protagonistinnen mit einem Alkoholproblem sucht - aber Scouts versuchen meistens, alles zu bekommen. Da Agenten oft kontrollieren wollen, wer ein Buch wann zu Gesicht bekommt, ist der ultimative Coup eines Scouts ein 'Slip' oder ein Manuskript, das heimlich von einer befreundeten Quelle beschafft und bei Cocktails und Kaffee kultiviert wird, so dass der Kunde des Scouts ein paar zusätzliche Tage oder Stunden Zeit hat, um ein Buch zu prüfen, bevor die Konkurrenz es in die Finger bekommt. Die gängigste Kurzformel lautet, dass Scouts die Spione der Buchwelt sind."
Darüber würde ich nun tatsächlich mal gerne einen Roman lesen. Allerdings war der Täter, der nun geschnappt wurde, gar kein Scout, sondern ein 29jähriger Verlagsangestellter, der den gloriosen Namen Filippo Bernardini trägt. Der Fall bleibt aber weiter rätselhaft. Die Autorin Katharina Volckmer schreibt in einem Essay in der FAS darüber, dass ein naheliegendes Motiv nicht unbedingt finanziell, sondern habituell begründet sein könnte: Manuskriptdiebstahl, um an die Ressource des Mitredenkönnens zu kommen. Ging es darum, den Eindruck zu vermeiden, dass man nicht "wichtig genug ist, um ein unkorrigiertes Leseexemplar zugeschickt zu kriegen"? "Nichts tut so weh", schreibt Volckmer, "wie zu merken, dass man nicht dem angehört, was gern der 'innere Kreis' genannt wird." Die Autorin hat allerdings noch eine andere Erklärung für Bernardinis Taten, die wieder auf manische Bibliophilie hinauslaufen. Sie vermutet, dass der versuchte Raub auch aus "purer Freude am Lesen" geschehen sein könnte.
Alles andere als die pure Freude am Lesen war das Motiv des großangelegten Buchdiebstahls, von dem dieser Text aus Vanity Fair erzählt. In akrobatischen Heists wurden hier immer wieder seltene teure Bücher aus Bibliotheken und Museen gestohlen. Was danach geschah, erinnert allerdings eher an das, was Christina Dongowski gerade als das hässliche Geschäft des Kunstraubs beschrieben hat. Am Ende geht es darum, möglichst viel Geld zu verdienen.
Eine Kriminalgeschichte, die nichts mit Diebstahl, allerdings sehr viel mit Hochstapelei zu tun hat, ist der Fall des Autors Dan Mallory (The Woman in the Window). Die Geschichte ist ziemlich düster, weil Mallory wohl systematisch Leidensgeschichten erfunden hat, um sich in der Verlagswelt Vorteile zu verschaffen. Allerdings stellt sie auch ein ziemlich spannendes Sittengemälde über die Literaturbetrieb der Gegenwart dar. Ein Essay im New Yorker erzählt davon, und Victor Sattler hat den Fall für 54books analysiert.
Ein guter Videoessay über Make-up
Auf dem sehr empfehlenswerten Youtube-Kanal von "Digitale Bildkulturen" findet sich ein spannendes Video, dass erklärt, was es mit dem Make-up-Trend "Glow" auf sich hat und was dessen Erfolg über Schönheitsideale und digitale Selbstinszenierung aussagt.
Die guten Texte
Nicht nur ist der Autor von Bambi der Verfasser eines belastenden pornographischen Beststellers; auch der angebliche Jugendbuchklassiker selbst ist viel düsterer als man dachte. Apropos belastende Pornographie: Jemand hat den Palast des Pornhub-CEOs abgefackelt. Was es damit auf sich hat, und was sich sonst noch über die umkämpfte Plattform sagen lässt, kann man hier nachlesen. Und wo wir schon bei 'belastend' sind: In diesem Essay analysiert Titus Blome, welche Bedeutung Memes für das Sozialverhalten in der digitalen Latrine 4Chan haben und was das über allgemeine "memetischen Normen" aussagt.