Kultur & Kontroverse

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Kinder als narrative Ressource

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Kinder als narrative Ressource

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Oct 4, 2022
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Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt.

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Kinder als narrative Ressource

In der aktuellen Ausgabe des Magazins "Drift" findet man ein Essay, das sich mit analytischem Spott einem mächtigen Power Couple der amerikanischen Gegenwartsliteratur widmet. Emily Gould und Keith Gessen, die durch ihre Positionen bei Gawker und N+1 berühmt geworden sind und zu den frühen Protagonisten des Autofiktionsbooms gehören. Inzwischen schreiben sie offenbar sehr viel über ihren kleinen Sohn Raffi, was die Autorin des Essays, Piper French, dazu bringt von einem "unabsichtlichen Kinderstar" zu sprechen. Keith Gessen hat daraus jetzt ein ganzes Buch gemacht: "Raising Raffi: The First Five Years".

Elternschaft ist in den letzten Jahren zu einer hochwertigen literarischen Ressource geworden. Die Autor:innen, die in ihren Zwanzigern mit autofiktionalen Texten über ihre Entfremdung bekannt geworden sind, sind nun um die 40 und haben Kinder gekriegt. Gleichzeitig scheint der Hunger nach faktualen Geschichten nach wie vor groß zu sein. Das ist auch gut so, denn es handelt sich um ein Thema, das viel zu lange viel zu wenig in der Literatur verhandelt wurde. Es gibt viele Autor:innen, die mit Wärme und Diskretion darüber schreiben. Allerdings stellt sich natürlich immer die Frage nach den ethischen Problemen, die ein solches Schreiben mit sich bringt. Immerhin können sich Kinder zunächst einmal nicht gegen narrative Verarbeitung zur Wehr setzen oder ein Einverständnis geben. Sie sind damit in gewisser Hinsicht der Sonderfall eines bekannten literarischen Konflikts. Piper schreibt:

"Was die schwierige Ethik des Schreibens über die Menschen um einen herum ausgleicht, ist genau das, dass es ein unmissverständliches Risiko ist: Die Schriftsteller:in nimmt dabei die Möglichkeit in Kauf, Freunde, Liebhaber und Eltern zu verärgern. Diese Menschen können darauf reagieren: privat, bei öffentlichen Auftritten oder in schriftlicher Form. Oft tun sie das: Michel Houellebecqs Mutter schrieb ihre Rache-Memoiren; Karl Oves Ex-Frau, Linda Boström Knausgaard, wurde eine eigenständige Schriftstellerin. Gould erzählte dem Guardian einmal, dass ihre eigene Familie eine Zeit lang nicht mehr mit ihr sprach, nachdem ihre Memoiren erschienen waren, und auch ihre beste Freundin fühlte sich von einem fiktiven Doppelgänger verbrannt. Einer ihrer Ex-Freunde veröffentlichte sogar einen Essay darüber, wie es war, mit jemandem zusammen zu sein, der ihre Beziehung als Blogger-Futter behandelte. Aber Kinder können nicht zurückschreiben."

Das ist sicher richtig, allerdings können sich Kinder ja später bei ihren Eltern durch Romane etc. rächen. Doch auch dann bleibt oft eine Verletztheit zurück, die sich vor allem aus der Tatsache speist, von den eigenen Eltern verraten worden zu sein. In meinem Buch "Indiskrete Fiktionen", in dem es um die Probleme des narrativen Eigentumsrechtes geht, habe ich ein paar solcher Fälle analysiert. Dazu gehört etwa der eigentümliche autobiographische Roman "Sturz durch alle Spiegel" von Ursula Priess, der Tochter von Max Frisch. Der Roman, der sich auch als ästhetische Antwort auf den Vater begreift (und deshalb stark an "Montauk" angelehnt ist), erzählt von der Zerstörung, die die Literatur des Vaters im Leben der Autorin angerichtet hat.

Priess berichtet, wie das gemeinsame Leben durch die ständige Furcht, im nächsten Buch des Vaters aufzutauchen, vergiftet wurde: "Angst schwang immer auch mit, zunehmend bei jedem Buch, Angst vor Verletzung (wenn auch andere ganz andere Blessuren erhalten haben!), Angst vor Enttäuschung, Zurückweisung, Distanzierung…" Was hier zum Ausdruck kommt, ist vor allem die Angst davor, im Nachhinein herausfinden zu müssen, dass schon im Moment des scheinbar intimen Erlebens einer Zusammenkunft mit dem Vater die instrumentelle Vernunft des Schriftstellers auf Verwertbarkeit ausgerichtet war. Die Klage richtete sich gegen den Vorgang der Objektivierung, dagegen, zu einer Figur objektiviert zu werden.

Diese Angst gehört zu den wiederkehrenden Topoi familiärer Opfererzählungen. Auch in den Memoiren des Sohns Saul Bellows, Greg Bellow, findet sich eine ähnliche Passage. In Saul "Bellow’s Heart" (2013) schreibt er von einer ständigen Furcht davor, in den Romanen seines Vaters aufzutauchen: "Und ich muss gestehen, dass ich nach Beendigung eines jeden Romans aufatme, wenn ich weiß, das ich nicht zum Objekt seiner Verachtung geworden bin." Aus Greg Bellows Äußerungen kann man die Wut und Verletztheit spüren, die eine literarische Verarbeitung mit sich bringt:

"Eine solche literarische Freiheit kann und wird oft in unverhohlenen Diebstahl ausarten. Und der Diebstahl der Persönlichkeit eines Menschen ist kein Verbrechen ohne Opfer. Ganz im Gegenteil, es ist ein Verbrechen, dessen Opfer einfach keine Stimme haben. Es ist nicht - wie ich kürzlich Benjamin Taylor, den Herausgeber der kürzlich veröffentlichten Briefe meines Vaters Briefe meines Vaters, behaupten hörte - eine Ehre, in einem großen Kunstwerk verewigt zu werden."

Es ist zu hoffen, dass Raffi Gessen aus den Essays und Büchern, die seine Eltern über ihn produziert haben, einen weniger unglücklichen Eindruck mitnehmen kann.

Unersättliche Nostalgie

Nach wie vor tobt ein Kampf um Diversität in populärkulturellen Erzählungen. Gerade wurde "Bros", die erste schwule Romcom zum Opfer einer Review Bomb. Über die Angst davor, dass Meerjungenfrauen PoC sein könnten, oder schwarze Elfen existieren dürfen, hat Adam Serwer im "Atlantic" folgenden Gedanken, den ich ziemlich einleuchtend finde. Demnach erklärt sich die teilweise rasende Wut über Meerjungfrauen, Zwerge und Wookiees dadurch, dass sich die erwachsenen Fans nicht eingestehen können, dass sie die kindliche Freude an ihren Erzählungen verloren haben - nicht durch den "woken" Zeitgeist, sondern durch das Erwachsenwerden.

"Bekannte Genre-Marken wie Star Wars, Marvel oder Herr der Ringe haben ebenfalls die schwierige Aufgabe, Inhalte für Kinder zu schaffen und gleichzeitig ihre Fans mittleren Alters zu befriedigen, deren Nostalgie letztlich unersättlich ist, weil sie das neue Material nicht mit derselben emotionalen Intensität betrachten können, die sie als Kinder empfunden haben. Viele ältere Fans sind davon überzeugt, dass sie diese Intensität nur deshalb nicht wiedererlangen können, weil die Produzenten selbst es nicht geschafft haben, Geschichten von gleicher grundlegender Qualität zu schaffen, während sie in Wirklichkeit einfach aus dem Gefühl herausgewachsen sind, dem sie nachjagen. Die Kampagnen versuchen, dieses Publikum davon zu überzeugen, dass das Gefühl, dem sie nachjagen, wiedererlangt werden kann, wenn nur die Macher der populären Kunst das moderne progressive Dogma ablehnen würden - und so einen Brunnen kultureller Ressentiments schaffen, den sie für politische Zwecke manipulieren können."

Ein gutes Video

John Oliver ist hier ziemlich gut zum Thema gestohlener Artefakte. Brilliant vor allem am Ende das "Payback Museum".

Feuilleton als Trash TV

Je weniger man noch über den grotesken Auftritt von Richard David Precht und Harald Welzer bei "Lanz" sagt, desto besser. Es erscheint von Grund auf unnötig, fast frivol, inhaltlich darauf einzugehen. Die Frage, die ich mir die ganze Zeit gestellt habe, ist eher, was die kulturelle Funktion des ganzen Komplexes eigentlich ist und ob es am Ende nicht vor allem darum geht, ein Irritationspotential zu schaffen, dass sich mit einer Mischung aus Ärger und Schadenfreude konsumieren lässt. Denn großes Fernsehen war es in jedem Fall, Feuilleton als Trash TV. Dafür sorgte schon die erschreckende Beobachtung, dass es den beiden Gästen offenbar sehr ernst mit der Sache war, dass echte Emotionen im Spiel waren. Diese Emotionen müssen wohl auch dazu geführt haben, dass Precht vor einiger Zeit einmal bei der FAZ vorstellig geworden ist und, wie Jürgen Kaube jetzt berichtet, gefordert habe, eine Ressortchefin zu entlassen. Außerdem hat die Autorin Anne Rabe aus der ganzen Sendung ein Dramolett gemacht, das man hier nachlesen kann.

Sexy Serienkiller

Die neuste Serienkillersendung auf Netflix "Dahmer" hat bereits für Irritation gesorgt, was irgendwie verwunderlich ist, denn die narrative Exploitation von Serienkillern läuft ja schon eine Weile und man hatte nicht den Eindruck, dass der Hunger nach diesen Geschichten nachgelassen hat. Ansonsten wären uns die letzten 20 tiefen erzählerischen Einblicke in die Seele des Monsters etc. erspart geblieben. Die kulturelle Obsession mit pathologischen Mördern lässt manche Leute sogar tief in den Geldbeutel greifen. Die Brille Dahmers wurde angeblich für 150.000 Dollar verkauft. Ich habe hier schon mal über den True Crime Boom geschrieben, ein Essay, wie dieser Boom mit dem Nischeninteresse nach "Murderabilia" zusammenhängt, folgt irgendwann.

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E L H O T Z O @elhotzo
Netflix True Crime-Formate: Mord ist schlecht! Aber was wenn dein Mörder sexy wäre ;) macht nachdenklich oder?
10:05 AM ∙ Oct 2, 2022
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Simon Sahner / @simonsahner@mastodon.social @SamsonsHirne
True Crime = Porno für Millenials mit Uni-Abschluss
1:18 PM ∙ Oct 3, 2022
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Pop Base @PopBase
Jeffrey Dahmer’s prison glasses are being sold for $150,000 following the success of the Netflix series.
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4:38 PM ∙ Oct 2, 2022
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In eigener Sache

Im April dieses Jahres habe ich einen neuen Job an der Universität Siegen begonnen, den ich sehr gerne mache, der aber auch mit vielen neuen Aufgaben verbunden ist. Es wird mir deswegen nicht mehr möglich sein, den Newsletter jede Woche zu schreiben. Stattdessen kommt "Kultur & Kontroverse" jetzt alle zwei Wochen.

Die guten Texte

Sophie Gilbert schreibt über einen Trend, der neue TV-Shows bestimmt.

Carolin Amlinger stellt fest, dass Ernst Jünger viele männliche Fans hat.

Anthony Lane schreibt über T.S. Eliots "The Waste Land", das 100 Jahre alt wird.

Und: ein Song.

Die guten Tweets

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nilu🚬der müdeste mensch @nilu_minati
wie ich meinen tweet entwürfe ordner durchsehen
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5:22 AM ∙ Sep 18, 2022
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Torben Kaßler @torben_kassler
Klassiker der Tanz-Literatur
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9:34 AM ∙ Sep 29, 2022
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Jürgen "jkr" Kraus @jkr_on_the_web
Classical recipes: Caesar Salad.
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8:57 PM ∙ Sep 23, 2022
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