Kann man digitale Kunst besitzen?
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt.
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Bonusausgaben über sehr guten Content
Die Zeit vergeht schnell, wenn ein Jahr nur aus Krisen besteht. Die erste Ausgabe von "Kultur & Kontroverse" wurde Anfang September 2021 versendet, das heißt, wir feiern gerade ein Jubiläum. Ich habe in dieser Zeit viel darüber nachgedacht, was man mit dem Format Newsletter anstellen kann und wie es damit weitergehen soll. Die Form des frei flottierenden Kommentars macht mir großen Spaß. Es handelt sich um ein Experimentierfeld, das frei von den vielen Einschränkungen des wissenschaftlichen oder feuilletonistischen Schreibens ist. Die Tatsache, dass inzwischen viele Menschen regelmäßig mitlesen, teilen, kommentieren, lässt mich vermuten, dass auch die Leser*innen Spaß daran haben. Besonders dankbar bin ich den Leser*innen, die ein monatliches Abo (4 Euro/Monat) abgeschlossen haben, oder ab und zu per PayPal spenden. Dieser Newsletter ist eben auch Arbeit.
Wörter verschwinden
Für Aufregung sorgte im Sommer die Nachricht, dass die Musikerinnen Lizzo und Beyoncé auf ihren neuen Alben nachträglich das Wort “Spaz” aus einzelnen Songs getilgt hatten. Es handelt sich dabei um einen beleidigenden Begriff für Menschen mit Behinderung. Dafür wurden die beiden in der Öffentlichkeit stark kritisiert, was offenbar zu einem Umdenken führte - und schließlich auch zu einer Veränderung der Lyrics, die jetzt auf den Streaming-Plattformen in den neuen Versionen zur Verfügung stehen.
In der Neuen Zürcher Zeitung wurde aus dieser Reaktion auf öffentliche Kritik unmittelbar und mit dem bekannt trostlosen Automatismus dieser Debatten die Fallstudie eines „woken Purismus“ gemacht, der in die Kunst eingreift, um sie zu zerstören. Diese Beschwerde über die „Sprachpolizei“ und den „Shitstorm“ erzeugt inzwischen vor allem einen bleiernen Überdruss. Ähnliche Debatten werden auch immer wieder um rassistische Ausdrücke in Kinder- und Jugendbüchern geführt, oder ganz aktuell um das Erbe, das die Bücher von Karl May hinterlassen haben.
Solche Debatten haben an der Kultur, die sie vordergründig verteidigen, oft gar kein Interesse, sondern nutzen die emotionsgeladenen Fälle, um auf billige Weise politisch zu punkten. Wenn man die Fälle allerdings aus einer historischen Perspektive betrachtet, dann fällt auf, dass hier auch der traditionsreiche Horror davor aufgerufen wird, dass die Integrität eines Werkes verletzt werden könne. Dieser Horror beruht auf der Vorstellung, dass ein Kunstwerk vollendet und kanonisch ist, wenn es von der Künstler*in in die Öffentlichkeit entlassen wurde. Nachträgliche Eingriffe erscheinen dann als Zensur oder Selbstzensur.
Die Geschichte dieser Diskussion reicht lange in die Kulturgeschichte zurück. Ein Beispiel für einen historischen Fall ist die Figur des Shakespeare-Herausgebers Thomas Bowdler, dessen moralisch bereinigte Versionen der Dramen lange Zeit das Bild des Dichters bestimmten, daher stammt der Begriff “bowdlerize” für die beschönigende Bereinigung literarischer Werke. Dazu gehört aber auch die Debatte über den Snyder-Cut des Superheldenfilms Justice League in den letzten Jahren. Dabei ging es um eine angeblich überlegene Originalversion des Regisseurs Zack Snyder, die das Studio zerstört haben soll.
Der Konflikt um die Integrität eines ästhetischen Artefaktes und die Frage, was ein nachträglicher Eingriff bedeutet, ist also nicht neu. Allerdings hat es die Digitalisierung so einfach wie nie zuvor gemacht, solche Eingriffe vorzunehmen. Lieder, die vor allem über Streaming-Dienste gehört werden, können problemlos geändert oder ganz zum Verschwinden gebracht werden. Bücher oder Musik wurden zwar auch in vor-digitalen Zeiten geändert, aber das betraf selten den individuellen Besitz von Privatbibliotheken.
Der Fall der überarbeiteten Songtexte eignet sich gut dazu, über Werkintegrität im Zeitalter der Digitalisierung nachzudenken. Zunächst einmal machen die nachträglichen Eingriffe in die Songs von Lizzo und Beyoncé die fragile Eigentumslage digitaler Kunst sichtbar. Die meisten Menschen wissen inzwischen, dass sie die Musik, die sie auf Streaming-Plattformen hören, nicht besitzen. Wenn man das Spotify-Abonnement morgen kündigen würde oder die Firma übermorgen Pleite geht, wäre die Musik, die man möglicherweise über Jahre hinweg gesammelt und katalogisiert hatte, einfach weg.
Einen konkreten Eindruck, wie ein solcher Verlust aussehen könnte, bekamen die Nutzer*innen von Spotify Anfang des Jahres, als Neil Young und Joni Mitchell aus Protest gegen den Podcast von Joe Rogan ihre Musik von der Plattform tilgen ließen. Rogan hatte politisch fragwürdigen Kommentatoren und Impfgegnern eine Plattform gegeben. Erst die Digitalisierung macht eine solche Form der kulturpolitischen Aggression überhaupt möglich. In eine Sammlung analoger Tonträger könnten die empörten Musiker*innen jedenfalls nicht eingreifen, auch wenn der Besitzer ein großer Fan von politisch fragwürdigen Podcasts wäre.
Die Digitalisierung verunsichert unsere Vorstellung davon, was ein fertiges Kunstwerk ist. Das zeigt sich auch in Bezug auf Phänomene der digitalen Kultur. Videospiele werden inzwischen oft – und zum großen Zorn der Spieler*innen -–in einem desolaten technischen Zustand ausgeliefert. Dahinter steht das Kalkül, dass die Fehler und Probleme dieser ästhetischen Artefakte im Nachhinein behoben werden können, da das Spiel jederzeit verändert werden kann. Gleichzeitig verschwinden alte Versionen von Spielen zuweilen aus den digitalen Verkaufsläden oder werden durch neue Versionen ersetzt.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie sich in Zukunft unsere Vorstellung davon verändern wird, was es bedeutet, ein Kunstwerk zu besitzen. Man wird sich darauf einstellen müssen, dass das, was man in seinen digitalen Bibliotheken gesammelt hat, einen fluiden Charakter bekommt. Die Beklommenheit, die dieses Szenario vielleicht bei manchen erzeugt, ist verständlich. Man würde auch nicht wollen, dass fremde Menschen in die privaten Sammlungen der eigenen vier Wände eingreifen. Allerdings versprechen die Innovationen der Revision auch einen Energieschub im Nachdenken darüber, was ein Werk überhaupt ist. Die Möglichkeit, an etwas weiterzuarbeiten, in der Kommunikation mit dem Publikum die Kunst zu verbessern, erscheint jedenfalls nicht nur bedrohlich.
Die Verwechslung des Autors
Ich habe die neue "Herr der Ringe"-Serie noch nicht angefangen. Die feuilletonistische Logik des Mitredenwollens wird mich dazu noch zwingen, aber eigentlich hatte ich mir vor langer Zeit einmal vorgenommen, dass ich keine Narrative mehr konsumieren möchte, in denen potential der Satz vorkommen könnte: "Im Morgengrauen reiten wir nach Eldoron...". Unendlich interessant ist aber jetzt schon die Rezeption. Das galt bereits für die Rezeption vor der Rezeption, über die dieser Text Auskunft gibt. Und jetzt wurde die Serie natürlich Opfer einer Review Bomb, weil sie diverser ist, als die blütenweiße Fantasie toxischer Nerds es zulassen will.
Es gehört allerdings zu den Pathologien des Gegenwartsdiskurses, dass diese Geschichte seltsamer und seltsamer werden muss, bis man nicht mehr weiß, ob wir noch in der Realität oder in einem postmodernen Fiebertraum leben. Und natürlich ist Elon Musk involviert. Jonas Lübkert hat einen sehr guten Thread dazu, wie es dazu kommen konnte, dass der Musk-Kult auf Twitter inzwischen denkt, Neil Gaiman (der Autor von Sandman) habe Rings of Power geschrieben.
Die guten Texte
Berit Glanz schreibt in der FAS über die App Bereal und den Status digitaler Authentizität.
Eine neue Biographie über Agatha Christie verteidigt die Autorin gegen bekannte Vorwürfe.
Jared Kushner, der Schwiegersohn Donald Trumps, hat ein Buch geschrieben. Michael Wolff macht sich hier darüber lustig.