Ist Literatur ein kannibalisches Gewerbe?
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt. Wer sich für Streitereien und Debatten über Bücher, Filme, Musik, Serien und viele andere Dinge, die uns entzweien, interessiert, der ist hier an der richtigen Stelle.
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Haltet den Dieb!
Im August 2021 erschien eine vielbeachtete Biographie W.G. Sebald von Carole Angier, die eine alte Debatte um die ethischen Probleme der literarischen Verfahren des Autors neu angefacht hat. Im Wesentlichen geht es um die Frage, ob Sebald ein Geschichtendieb war - ein Schriftsteller, der sich die realen Lebensgeschichten anderer Menschen widerrechtlich angeeignet hat. Man bekommt den Eindruck, dass diese Debatte auch deshalb wieder hochkocht, weil sie sich dazu eignet, den Streit um das Konzept der kulturellen Appropriation noch einmal durchzuspielen. In der Süddeutschen Zeitung wird der Wandel im Urteil über Sebald dann auch in einer Verschiebung der Grenzen von Ethik und Ästhetik gesucht. Dort heißt es: „Die literarische Ethik hat sich seit seinem Tod im Jahr 2001 sehr verändert und zwar offenkundig nicht zu seinen Gunsten. Die Kritik entzündet sich vor allem an zwei Schreibtechniken, die zuletzt stark in Verruf geraten, für Sebald Poetik aber fatalerweise elementar sind.“
Diese Schreibtechniken beziehen ihre Energie demnach aus Sebalds sehr freiem und unzuverlässigen Umgang mit historischen Fakten und fremden Schicksalen. Auch der Autor der taz geht auf den Vorwurf der „appropriation“ ein. Sebald habe etwa in Die Ausgewanderten freihändig reale Lebensgeschichten übernommen und ausgeschmückt, und das habe problematische ethische Implikationen: „Vor allem ist die literarische appropriation des nur allzu wirklichen jüdischen Leids durch einen deutschen Schriftsteller gegenüber der historischen Realität und Entsetzlichkeit des Völkermords an den europäischen Juden unangemessen – um eine milde Bezeichnung zu wählen.“ Vor allem gegen diesen Vorwurf richtet sich dann die verärgerte Replik in der FAZ, die schon im Untertitel als „Verteidigung“ in den Ring geht. Die Vorwürfe seien ein alter Hut, nicht nur, wo sie sich auf den Autor beziehen, sondern für Literatur im allgemeinen:
„Sebald hat reale Figuren aus Geschichte und Gegenwart als Vorbild genommen und in seine Erzählwerke verpflanzt? Aber was um Himmels willen tut ein Roman sonst, dieses nach Walter Benjamins zeitloser Definition 'zusammengestoppelte Unding aus Erlebtem und Ausgedachtem'? Hat Stendhal für Julien Sorel nachgefragt bei den Hinterbliebenen des guillotinierten Antoine Berthet? Flaubert bei denen von Madame Delamare, bevor er sie als Emma Bovary unsterblich machte? Goethe bei Werthers Lotte? Zu schweigen von all den unbekannten Tanten, Geschwistern, Nachbarn. Es hilft nichts: Der Romancier pflegt ein kannibalisches Gewerbe, und es ist gefährlich, in seiner Nähe zu leben. Sebald habe alles getan, um seinen Erzählwerken den Anschein des Wahren, Realen zu geben? Welcher Autor täte oder zumindest versuchte das nicht? An die Realität der Emma Bovary glaube ich aber nicht wegen Delphine Delamares Grabstein im Dörfchen Ry, dem 'Vorbild' für Yonville l'Abbaye, sondern wegen der bezwingenden Kunst des Romanciers Flaubert!“
Diese Art der Aufzählung gehört zu den beliebten Argumentationsstrategien der Verteidigung moderner Literatur gegen den Vorwurf des Geschichtenklaus. Daniel Kehlmann hat während des Streits um Maxim Billers Esra im Wesentlichen das gleiche geschrieben: „Daß alle Dichter, wie reich ihre Erfindungsgabe auch ist, aus dem Leben schöpfen, und einige der bedeutendsten Bücher, wären solche Maßstäbe angewendet worden, nicht hätten erscheinen dürfen, 'Die Leiden des jungen Werther', 'Vanity Fair', 'A la recherche du temps perdu', 'Die Buddenbrooks'." Und: „Autoren sind keine netten Leute, es ist nicht empfehlenswert, einem von ihnen Einlaß in sein Leben zu gewähren.“
Demnach sind Autoren eben böse Menschen, die für ihre Kunst andere Menschen (hoffentlich nicht einen selber) über die Klinge springen lassen. Die Geschichte der modernen Literatur wäre dann eine Geschichte kannibalistischer Grenzüberschreitungen, die sich durch den ästhetischen Gewinn eines Meisterwerks rechtfertigen. Für die Menschen, die literarisch, und das heißt oft persönlich und kulturell enteignet werden, handelt es sich allerdings um ziemlich katastrophale Erfahrungen. Das galt für Johann Christian Kestner und seine Frau Lotte, die 1774 im Werther verarbeitet wurden, genauso wie für die Autorin, die 2021 ihre Lebensgeschichte in der viralen Erzählung „Cat Person“ wiederfand. (Für Kestner hatte der Diebstahl seiner Geschichte im übrigens zuletzt die unangenehme Spätfolge, im Film Goethe! von Moritz Bleibtreu als treudoofer Spießer verkörpert worden zu sein. Der Film legt selbstverständlich nah, dass der Werther dann komplett auf realen Ereignisse beruhen würde.)
Der Fall Sebald erweitert das Problem der persönlichen Enteignung noch durch den Aspekt der kulturellen Enteignung. Wer darf über die Judenverfolgung schreiben? Wer darf sie zum Anlass von Literatur machen? Das sind keine einfachen Fragen, die gerade erst neu im Kontext des trostlosen Cancel-Culture-Diskurses aufgekommen sind, und sie lassen sich auch sicher nicht durch einen Verweis auf die Freiheit der Literatur einfach wegwischen, die das eben schon immer so gemacht hat. Es ist auch keine literaturgefährdende Anmaßung, diese Dinge zu diskutieren, wie im letzten Satz des FAZ-Artikel angedeutet wird, wo es heißt: „Die unreflektierte Ideologie der 'kulturellen Aneignung' beschädigt nicht nur Autoren, sie beschädigt die Literatur.“
Es sollte langsam etwas misstrauisch machen, dass seit über 200 Jahren die gleichen Argumente einfach immer wiederholt werden. Darüber, wie kompliziert die Frage nach dem narrativen Eigentumsrecht dann vielleicht doch ist, habe ich in meinem Buch Indiskrete Fiktionen geschrieben, wo es auch kurz um Sebald geht. Rhys W. Williams etwa schreibt in seinem Aufsatz "Andersch und Sebald. Die Dekonstruktion einer Dekonstruktion" von 2010, dass die Polemik gegen Alfred Andersch, dem Sebald vorgeworfen hatte, sich auf unangemessene Weise an fremden Geschichten und Stoffen zu bedienen, in gewisser Hinsicht auf Sebald zurückfalle. Dieser erweise sich ebenfalls als skrupelloser und geschickter Dieb fremder Identitäten: „Seine ständige Suche nach Authentizität“, schreibt Williams, „führte ihn dazu, das Leben von anderen für seine literarischen Zwecke auszubeuten und eine Art ‚Identitätsraub‘ zu verüben“.
Als Beispiel für einen solchen Raub nennt Williams die Figur des Malers Max Aurach in Die Ausgewanderten, in der sich der Londoner Künstler Frank Auerbach wiedererkennen musste – vor allem auch, da Sebald in der deutschen Ausgabe des Bandes einige Bilder Auerbachs reproduzierte. Erst der Einspruch des Künstlers führte dazu, dass Sebald in der englischen Ausgabe die Bilder entfernte und die Figur in Max Ferber umbenannte. Williams unterstellt dem Autor fehlendes Problembewusstsein. Sebald habe auf seiner ‚ständigen Suche‘ nach Lebensnähe und Authentizität die ethischen Probleme, die mit dieser Suche einhergehen, ausgeblendet: „Ohne Auerbachs Einwände wäre Sebald wohl nie auf die Idee gekommen, dass jemand an der Verwendung seiner Lebensgeschichte für literarische Zwecke Anstoß nehmen könne.“
Bedeutsam erscheint in diesem Zusammenhang, dass Sebald auf die Einwände Auerbachs mit zusätzlicher Fiktionalisierung reagierte. Die narrativen Elemente, die zu einer Wiedererkennbarkeit des realen Vorbilds führen mussten, wurden gestrichen (die Abbildungen) oder abgeändert (aus Max Aurach wurde Max Ferber), um so die Gefahr der Referenzialisierbarkeit zu verringern. Allerdings stellt sich die Frage, warum Sebald diese Diskretionsstrategien nicht schon in der deutschen Ausgabe von Die Ausgewanderten zur Anwendung gebracht hatte. Immerhin ist die ursprüngliche Darstellung durch die Namensähnlichkeit und die Reproduktion realer Bilder stark auf Wiedererkennbarkeit angelegt.
Dahinter gibt sich ein poetologisches Programm zu erkennen, das sich nicht nur auf eine initiale Inspiration durch reale Geschichten für eine fiktive Handlung beruft; diese realen Hintergründe sollen auch die Rezeption bestimmen – eine partiell faktuale Lesart wird eingefordert. Erst vor dem Hintergrund dieses Programms wird auch der 'Identitätsraub' als moralische Begleiterscheinung plausibel. Der Text verlangt danach, dass die Figur Max Aurach zumindest teilweise als die Person Frank Auerbach gelesen wird, beansprucht aber (durch die Namensänderung) auch die Lizenzen der Fiktionalität. Es handelt sich also nicht um Verarbeitung, sondern um Verschlüsselung. Die Wiedererkennbarkeit der Person hinter der Figur ist Teil der Wirkungsabsicht des Romans.
Die guten Texte
Während linksliberale Medienmenschen die Hände darüber ringen, wie die schlechten Umgangsformen auf den Sozialen Medien die Gesellschaft spalten, verdienen andere Menschen mit dieser Spaltung eine Menge Geld. Dieses Porträt eines besonders umtriebigen Ideologie-Entrepreneurs zeigt, wie das Big Business mit dem Rechtssein funktioniert. Dieses Business gelingt vor allem deshalb, weil es die kulturellen Voraussetzungen in einer gesellschaftliche Tendenz zur Paranoia findet, wie zum Beispiel die Vorstellung, es gäbe einen riesiges Problem mit verschwundenen Kindern. Was es damit auf sich hat, nimmt dieser Artikel auseinander. Außerdem ein tiefgehendes und abwägendes Essay über Richard Wright.
Und ein Song.