Ist es Literatur, wenn es uns wütend macht?
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt.
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Die Zuschüttung des Sommerlochs
Der Newsletter ist zurück aus der Pause und ich musste mit Schrecken feststellen, dass die Pandemie möglicherweise das Konzept des "Sommerlochs" zerstört hat. Da alle Menschen eh den ganzen Tag in ihrer Wohnung sitzen und wütend Texte im Internet lesen, fällt die wichtige Diskursverlangsamung im August jetzt offenbar einfach aus - diese selige Zeit, in der ein lauer Wind über die ausgestorbene Debattenlandschaft blies. Man erinnert sich: Es war die Zeit, in der Menschen noch nach draußen gegangen sind, um - wie es in der Twittersprache heißt - Gras anzufassen.
Ich könnte gar nicht anfangen, all den Krawall, der in den letzten vier Wochen stattgefunden hat, nachzuarbeiten. Deshalb lasse ich es gleich. Nur so viel: Letzte Woche habe ich einen Text zu der unseligen Winnetou-Debatte geschrieben, die nach wie vor betrieben wird, bis der letzte Klick aus dieser Zitrone gepresst ist. Da man in diesen Zeiten seine aufmerksamkeitsökonomische Unschuld nicht bewahren kann, fällt es mir auch nicht schwer, zu berichten, dass dieser Text jetzt schon zu den meistgeklickten und meistgeteilten Artikeln auf 54books gehört.
Leser*innen (und dazu gehören wir alle) wollen lieber die Debatten-Pyroshow als das geschmackvolle Kammerorchester - und dafür sollten wir uns alle auch ein bisschen schämen. Wie dem auch sei, ich habe in Sachen Winnetou einige sehr wütende Zuschriften bekommen, worüber ich bei nächster Gelegenheit berichten werde. Um nur dies vorwegzunehmen: Menschen haben große Angst, dass Bücher verboten werden, die sie nie zu lesen vorhatten. Und die auch nicht verboten werden.
Ein lustiges Video aus dem Internet
Boomer und Millennials im 19. Jahrhundert
Ivan Turgenevs Väter und Söhne aus dem Jahr 1862 ist ein klassischer Diskursroman, der die Debatten seiner Zeit verarbeitet und Ideen, die damals obsessiv diskutiert wurden, durch Figuren verkörpern lässt. Diese Art von Roman kann ziemlich anstrengend sein, aber sie liefert viele Anschlussmöglichkeiten für weitere Debatten. Keith Gessen erzählt in einem Essay - anlässlich einer neuen Übersetzung von Väter und Söhne ins Englische - davon, wie Turgenev von allen Seiten viel Ärger für den Roman bekommen hatte:
"Das Buch sorgte bei seiner Veröffentlichung für Furore. Junge Radikale fühlten sich durch die Darstellung von Basarow ins Visier genommen; Liberale waren der Meinung, dass das Buch die Radikalen zu positiv zeichnete; Reaktionäre glaubten, dass Turgenjew die Revolutionäre dauerhaft diskreditiert hatte. In unzähligen Briefen und Gesprächen verteidigte Turgenjew das Buch gegen die Kritik von allen Seiten. Währenddessen brannte St. Petersburg, die damalige Hauptstadt, lichterloh. Im Mai 1862, nur wenige Monate nach der Veröffentlichung von 'Väter und Söhne', wurde die Stadt von einer Reihe von Bränden heimgesucht. Die Regierung beschuldigte Turgenjews Nihilisten; eine Reihe junger Leute, darunter einige, mit denen er sich in der Presse angelegt hatte, wurden verhaftet. Einige dachten, Turgenjew hätte sie tatsächlich denunziert."
Gessen fragt: "Is it art if it makes everyone mad?" Ist es überhaupt Kunst, wenn es alle so wütend macht? Die Frage ist natürlich nicht ganz ernst gemeint, führt aber zu einem interessanten Problem, nämlich der modernen Abwertung von Kunst, die starke politische Emotionen erzeugt. Ist diese Kunst überhaupt autonom, wenn Menschen sich so sehr über ihren Inhalt erregen können, anstatt über die Form zu reden? Thesen- und Diskursromane haben einen schweren Stand in der Moderne, und das trotz, oder gerade wegen ihres stetigen Erfolgs.
Man vermutet, dass sie schnell altern, dass mit den Referenzen auf die Alltagswirklichkeit der eigenen Zeit auch der literarische Wert dieser Bücher verblasst. Und bei Romanen wie Fontanes heute unlesbaren Der Stechlin ist das tatsächlich auch der Fall. Dann wiederum gibt es Romane, die ihre Referenzen auf einer Ebene mittlerer Abstraktion präsentieren und das emotionale Potential von zeitgebundenen Realien so in zukünftige Gegenwarten retten können. Turgenevs Väter und Söhne gehört vielleicht dazu.
All das erinnert an die ästhetischen und politischen Konflikte der Gegenwart, in denen Menschen wieder wütend wegen Kunst werden und die Frage im Raum steht, ob das dann überhaupt noch Kunst ist. Auch der Thesenroman erlebt gerade eine seltsame Renaissance, die allerdings seinen schlechten Ruf bisher vor allem bestätigt hat. Beispiele wie Constantin Schreibers Die Kandidatin, Uwe Tellkamps Der Schlaf in den Uhren oder der unter großem Trara untergegangene AFD-Roman Machtergreifung eines Anonymus lassen für die Zukunft der Gattung jedenfalls nichts Positives vermuten.
Der Fall Turgenev erinnert allerdings auch an die Diskussion über das angeblich so verrohte Debattenklima unserer Tage. Es handelt sich um ein weiteres Kapitel aus der Geschichte der Öffentlichkeit, das zeigt, dass der Austausch auf dem "Markt der Meinungen" schon immer eher ein Handgemenge als eine respektvolle Konversation gewesen ist. Man würde sich manchmal wünschen, dass die Menschen, die sich heute von einer angeblichen "Cancel Culture" bedroht fühlen, und als Freiheitskämpfer inszenieren, weil Menschen im Internet gemein zu ihnen waren, mehr historischen Sinn für die 'gespaltenen' Gesellschaften vergangener Zeiten entwickeln würden, als Autoren wie Turgenev, Dostojewski oder Tschernyschewski tatsächlich für ihre Veröffentlichungen eingekerkert wurden.
Der Aspekt, den ich an Gessens Essay aber eigentlich am interessantesten fand, war, wie sich seine eigene Einstellung zu den Figuren in Väter und Söhne mit der Zeit verändert hat:
"Als ich 'Väter und Söhne' zum ersten Mal las, war ich an der Universität; alles, was mich interessierte, waren die Söhne, ihre Bereitschaft (in Bazarovs Fall), für ihren Glauben und ihre Gewissheit zu sterben. Als ich das Buch fünfundzwanzig Jahre später erneut las, fieberte ich mit den Vätern mit. Was könnten sie tun, um die Kluft zu überbrücken? Und warum waren ihre Söhne so gemein zu ihnen, nach allem, was die Väter für sie getan hatten? Sicher, sie waren nicht perfekt, aber sie taten ihr Bestes!"
Was Gessen hier beschreibt, ist ein faszinierendes literaturwissenschaftliches Phänomen: Unsere Lektüre verändert sich ständig und nach vielen wechselnden Kontextfaktoren. Einer davon ist das Alter. Man liest einen Roman anders, je nachdem, ob man 25 oder 45 ist. Das betrifft einen Generationenroman wie Väter und Söhne natürlich in besonderer Weise, weil die Zugehörigkeit zu einer Generation Einfluss auf die Sympathien hat, die man mit den Figuren empfindet. Solche Beobachtungen untermauern den Befund, dass Lektüren zwar nicht komplett individuell, aber ausgesprochen fragil sein können. Mich würde interessieren, wie sich das bei meinen Leser*innen verhält. Hat sich die Rezeption von Erzählungen (das können auch Filme, Serien, Games etc. sein) im Verlauf der Jahre verändert, kann man diese Veränderungen an bestimmte Lebenserfahrungen knüpfen? Schreibt es mir gerne als Tweet oder per Mail.
Die guten Texte
Sophie Gilbert, eine meiner absoluten Lieblingsautorinnen, schreibt über Serien, die sich mit wehrhaften Frauen beschäftigen.
Vor einigen Jahren Sorgte dieser Text zur Debatte über den "Kulturmann" in Schweden für Furore. Jetzt kann man ihn auch auf Deutsch lesen.
In Frankreich ist ein Roman über Putins Russland und einen mächtigen Spinn-Doctor erschienen.