Im Meinungskerker der Redefreiheitsfestung
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt. Wer sich für Streitereien und Debatten über Bücher, Filme, Musik, Serien und viele andere Dinge, die uns entzweien, interessiert, der ist hier an der richtigen Stelle.
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Im Meinungskerker der Redefreiheitsfestung
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, aus diesem Newsletter eine Zone zu machen, die weitgehend frei bleibt vom ubiquitären "Cancel-Culture-Diskurs" - diese Lieblingsbeschäftigung des deutschen Feuilletons, bei der noch jede Anekdote über eine Triggerwarnung oder ein angebliches Sushiverbot in irgendeinem kleinen College in South Dakota mit Begeisterung in den hiesigen Diskurs importiert und händeringend beklagt werden muss. Nicht nur handelt es sich um eine Scheindebatte, die konsequent an den konkreten Problemen und Fragen, um die es geht, vorbeigeführt wird, das Ganze ist auch langweilig und repetitiv.
Adrian Daub hat diesen Mechanismus in diesem sehr lesenswerten Artikel erschöpfend analysiert: "Der Weg von der Lappalie zur Maximalmetapher ist sehr kurz." Dass es sich um einen "Con", einen Schwindel, handelt, wurde bereits 2019 in diesem brillanten Text im "Atlantic" beschrieben, der das Konzept in diesem fulminanten Abschnitt ad absurdum führt (bringt mich immer noch zum Lachen):
"Gecancelt werden auf Twitter ist also ein Ereignis, das sich in eine beunruhigende Historie von schwerer Intoleranz, grausamer Verfolgung, offizieller Verurteilung und rachsüchtigen Aufruhr einreiht. Die Liste der gewichtigen Präzedenzfälle ist endlos. Nelson Mandela wurde gecancelt. Martin Luther King Jr. wurde gecancelt. Die Beatles wurden gecancelt. Lenny Bruce wurde natürlich auch gecancelt. Vladimir Nabokov, D.H. Lawrence und James Joyce wurden alle gecancelt. Alfred Dreyfus wurde gecancelt und notorisch wieder uncancelt. Robespierre, wie auch sein Kollege Joseph McCarthy, wurde schließlich selbst gecancelt. Zwanzig unglückliche Puritaner wurden in Salem gecancelt. Galilei wurde gecancelt. Martin Luther wurde gecancelt. Jeanne d'Arc wurde gecancelt. Mindestens ein halbes Dutzend Päpste wurden gecancelt. Jesus wurde gecancelt. Sokrates wurde gecancelt. Der Pharao Echnaton, der geschmäht und aus den offiziellen Aufzeichnungen gestrichen wurde, weil er den Monotheismus in Ägypten eingeführt hatte, wurde im vierzehnten Jahrhundert v. Chr. ziemlich gründlich gecancelt. Im vierundzwanzigsten Jahrhundert wurde Lugalzagesi, der Einiger von Sumer, von Sargon von Akkad und einer jubelnden Öffentlichkeit gecancelt, als er in einem Halsband durch die Stadt seiner Krönung marschiert und hingerichtet wurde. Et cetera."
Was für die einen als offensichtlicher Schwindel erscheint, ist für die anderen ein Gegenstand atemloser Berichterstattung. Die Journalistin Bari Weiss, deren Karriere darauf beruht, gegen linksliberale Cancel Culture zu kämpfen, und die mutig als Renegatin in einem System fungiert, das sie konsequent begünstigt, hat nun bekannte gegeben, dass sie mit Gleichgesinnten eine eigene Universität gründet, die den klangvollen Namen "The University of Austin" trägt. Es soll eine Uni werden, die sich nicht von linken Redeverboten einschüchtern lässt, wo auch verbotene Themen etc. In den Kommentaren auf Twitter ergoss sich rasch ein großer Kübel aus Spott über die Pläne, bis zum Vergleich mit der "Trump University". Abschlüsse wird diese Universität erst einmal nicht anbieten, sondern irgendwelche Sommerkurse. Es ist sehr aufwendig und langwierig, eine neue Universität zu etablieren und diese Art der ad-hoc Bekanntgabe wirkt in jeder Hinsicht fragwürdig, ähnlich wie die Liste der Dozent*innen und das Geld im Hintergrund.
Man wird abwarten müssen, was aus dieser - auch ziemlich lokalen - Geschichte am Ende werden wird. Und man konnte nur beten, dass die deutschen Medien aus dieser Geschichte kein Fünf-Gänge-Menü machen würden. Aber die meisten Gebete bleiben - wie man weiß - ungehört. Bald war dann also in der SZ ein Artikel über die neue "Universität gegen das Canceln" zu lesen. Hier ist die Rede von Twitter-Mobs, die angeblich an US-Universitäten paradieren und dafür sorgen, dass die Debattenkultur "mittlerweile häufig von Hetze und Angst geprägt" sei. Zu den Unterstützer*innen des Projekts gehörten, wie mit Respekt vermerkt wird, einige illustre Namen:
"der konservative Stanford-Historiker Niall Ferguson, die ehemalige New-York-Times-Kolumnistin Bari Weiss, die Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali, der Evolutionspsychologe Steven Pinker von der Harvard University, der Sozialpsychologe Jonathan Haidt von der New York University, der vor Kurzem von seinem Posten an der Portland University zurückgetretene Philosoph Peter Boghossian und der ehemalige Weltbank-Chefökonom und Harvard-Präsident Larry Summers. Kurz: die liberale Elite des intellektuellen Amerikas."
Es geschieht diesem eigentümliche Kabinett natürlich recht, in einer deutschen Tageszeitung als "liberale Elite" bezeichnet zu werden. Hier spiegelt sich die Begeisterung in Teilen des deutschen Feuilletons für das "intellektuelle Dark Web". Zu der neuen Universität gab es natürlicherweise auch einen Artikel in der "Welt" und gleich zwei in der FAZ. In dem einen Text ist von einer "Festung für die Redefreiheit" die Rede - ein Versuch, aus dem "Meinungskerker auszubrechen". Der andere Text dröselt den ganzen Fall noch einmal kleinteilig auf und bleibt dabei größtenteils affirmativ. Immerhin wird erwähnt, dass einer der Finanziers, der Palantir-Mitbegründer Joe Lonsdale, den aktuellen Verkehrsminister der USA als "Loser" beschimpft hatte, weil der sich Vaterschaftszeit genommen hat. Palantir wurde übrigens von Peter Thiel gegründet, einem Unterstützer Donald Trumps und anderer extrem rechter Akteure.
Ich sage es, wie es ist: Das alles zu lesen und darüber zu schreiben, hat mich müde gemacht und meine Laune nicht gehoben. Es gibt so viele andere Themen, die konfliktreich sind und dabei intellektuelle stimulierend. Und hier ist der Ort, wo diese Themen zur Sprache kommen sollen, und nicht die mechanische Debattierbude des Cancel-Culture-Diskurses.
Ein lustiges Video zur Aufheiterung
Die Rachsucht des Realisten
Sehr harte ging Benjamin Bratton in seiner Polemik im Oktober-Heft des "Merkur" mit dem Philosoph Giorgio Agamben ins Gericht. Und zurecht. Agamben hatte zuletzte, wie im Text aufgezählt wird, in seinen Äußerungen zur Pandemie jedes Maß verloren, und sogar den Impfpass mit dem gelben Stern verglichen. Das hat dazu geführt, dass sein akademisches Prestige von ziemlich dunklen Kräften instrumentalisiert werden konnte: "Heute besteht der Großteil von Agambens Online-Unterstützern nicht mehr aus seinen langjährigen Lesern, sondern aus einer Schar neuer Fans, in erster Linie einer Koalition verletzter, sich als 'contrarians' stilisierender, unreifer Männer. "
Die Freude über die wohltuende Wut über das philosophische Gerede Agambens, das mitleidlos und eitel über die Opfer hinweggeht, wird allerdings eingetrübt, durch den wurschtigen Realismus, der als Alternative ins Spiel gebracht wird. Agamben leugne eine Biologie, "die von den Worten, mit denen sie benannt wird, gänzlich unabhängig, nämlich schlicht real ist." In diesem "schlicht real" steckt nun wiederum ein Bedürfnis, anhand von Agambens Ausfällen den Kampf um postmoderne Theorien noch einmal auszukämpfen. Welche Rolle spielt Sprache bei der Konstruktion von Realität? Ist Realität überhaupt ein Konstrukt? Dass Bratton als Autor eines Buches, das den Titel "The Revenge of the Real" trägt, in dieser Hinsicht einen triumphalistischen Ton anschlägt, ist nicht verwunderlich, aber am Ende doch ähnlich deprimierend, wie die Freude Agambens darüber, dass die Geschichte seine Theoreme angeblich bestätigt hat.
Der Kampf, den Bratton hier kämpft, richtet sich gegen das, was er "Boomer-Theorien" nennt. Gemeint ist im weitesten Sinne ein kritischer Konstruktivismus, der sich darin erschöpft, darauf hinzuweisen, dass alles ein Konstrukt sei. Das Vermächtnis dieser Boomer-Theorien bestehe "aus der überragenden Fähigkeit, Verhältnisse zu dekonstruieren und Kritik an Autoritäten zu üben, während sie kaum fähig sind, konstruktiv und kompositorisch zu denken." Das habe zu einer gewissen Handlungsohmacht und einer individualistischen Abwehr jeder Form von staatlicher Einschränkung geführt. Was Bratton fordert, ist "eine positive Biopolitik, die auf einer neuen Rationalität der Inklusion, der Fürsorge, der Transformation und der Prävention beruht." Hinter diese Analyse könnte man sich eigentlich guten Gewissens stellen, wenn sie die Schadenfreude vermeiden würde, mit der die schrecklichen Ereignisse im innerakademischen Kampf verwendet werden.
Ein erschreckender Thread
Isabella Caldart hat sich umgehört, was Neueinsteiger*innen im Kulturbetrieb so verdienen und das Resultat ist niederschmetternd.

Die guten Texte
Der Literaturwissenschaftler Mark McGurl hat ein Buch darüber geschrieben, wie Amazon die Gegenwartsliteratur geprägt hat. Hier wird es besprochen. Ein spannendes Porträt der Kunstwissenschaftlerin Linda Nochlin, die den berühmten Essay "Why Have There Been No Great Women Artists?" geschrieben hat, kann man hier lesen. Und: Freundin und Kollegin Christina Dongowski schreibt darüber, warum sie Dostojewski auf Englisch liest.