Heiße Emotionen, kalte Tweets
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Ein Stolpern in der Kommunikation
Ryan Broderick berichtet in seinem Newsletter "Garbage Day" von einer Studie, die ein neues Feature auf Twitter untersucht, das eine kurze Warnung ausspricht, bevor man einen aggressiven Tweets abschickt. Diese Feature soll die Nutzer*innen dazu bringen, sich weniger toxisch zu verhalten. Das heißt, wenn man einen Tweet abschicken möchte, der 'böse' Wörter enthält, erscheint folgende Warnung:
Die Studie beginnt mit der Diagnose, dass Harassment im Internet in den letzten Jahren immer mehr zugenommen hat. 41 Prozent aller befragten Erwachsenen in den USA gaben an, online Opfer von Aggression geworden zu sein. Die Motive für diese Aggression sind vielfältig. Genannt werden etwa Rache ('retribution') oder moralische Empörung ('moral outrage'). Der Studie geht es aber vor allem um die Voraussetzungen dafür, dass gewaltvolle Kommentare überhaupt gepostet werden und diese Voraussetzung bezieht sich vor allem darauf, dass Menschen sich in einem "hot state", also einem erhitzen emotionalen Zustand befinden.
Die Autor*innen greifen dafür auf vorhandene Forschung zurück. Unter anderem geht es um Studien zu "regretful postings", also zur Frage, warum Menschen welche Art von Kommentar in Sozialen Medien bereuen. Allein das Konzept der "Kommentarreue" ist natürlich schon sehr interessant für die Analyse digitaler Kultur. Einer der wichtigsten Gründe für diese Reue ist der unbedachte, unkontrollierte Zustand, in dem ein Kommentar gemacht wurde: "Wenn es darum geht, zu verstehen, warum Menschen Postings bedauern, waren die häufigsten Gründe "Frustration ablassen" oder die Nutzer befanden sich in einem emotional "heißen" Zustand, den die Forschung definiert als: 'Dinge, die in einem sehr emotionalen Zustand gepostet wurden'."
Hier entsteht ein Bild der User*innen als emotional ausgesprochen undisziplinierte Kommunikationsteilnehmer*innen. Das Problem digitaler Kommunikation ist natürlich, dass sie einer Äußerung kaum Barrieren entgegenstellt. Zwischen Tippen und Senden liegen wenige Sekunden. Die Digitalisierung hat die Schnelligkeit der Face-to-Face Kommunikation in die entzerrte Kommunikationssituation der öffentlichen Debatte gebracht. So ist es möglich, dass wir fremde Menschen vor aller Augen anschreien können, als würden wir mit unserer Familie am Esstisch sitzen.
Das neue Tool soll einen Moment des Innehaltens, ein kurzes Stolpern in diese Kommunikation einbauen. Diese Form der Moderation zielt darauf ab, den Ton der Kommunikation zu zivilisieren. Dieses Vorhaben ist natürlich nicht neu. Das Projekt "Historische Technographie des Online-Kommentars" im Sonderforschungsbereich "Transformationen des Populären" untersucht die Geschichte dieser Moderation. In einem Aufsatz zur Kommentarplattform "Disqus" etwa wird gezeigt, wie sich die Zielvorstellung der Moderation immer mehr in Richtung "toxische Kommunikation vermeiden" verschoben hat.
Wie aber wirkt sich das neue Tool auf Twitter auf die Toxizität der Kommunikation aus? Die Studie zur Warnungsfunktion geht von vier Hypothesen aus, die alle darauf abzielen, dass das bewirkte Innehalten positive kommunikative Effekte haben wird:
"H1: Personen, die die Möglichkeit haben, innezuhalten und über ihren beleidigenden Tweet nachzudenken, werden mit geringerer Wahrscheinlichkeit beleidigende Tweets verfassen.
H2: Personen, die die Möglichkeit haben, innezuhalten und über ihren beleidigenden Tweet nachzudenken, werden mit geringerer Wahrscheinlichkeit in Zukunft weitere ähnlich beleidigende Tweets verfassen.
H3: Personen, die die Möglichkeit haben, innezuhalten und über ihren beleidigenden Tweet nachzudenken, werden weniger wahrscheinlich ihre Tweets nach dem Posten löschen, da sie weniger bedauernswerte Tweets verfassen, die übereilt gepostet wurden.
H4: Personen, die die Möglichkeit haben, innezuhalten und über ihren beleidigenden Tweet nachzudenken, werden weniger beleidigende Antworten auf ihre Tweets erhalten."
Die Resultate des Experiments kann man hier im Detail nachlesen. 69 Prozent der angemahnten Tweets wurden unverändert gesendet, 9 Prozent wurden gelöscht und 22 Prozent wurden abgeändert. Im Fall der abgeänderten Tweets wurde in 37 Prozent der Fälle tatsächlich entschärft, in 23 Prozent der Fälle bliebt die Aggression gleich, in 9 Prozent wurde eine Beleidigung verschleiert ("F*** you" statt "fuck you" - immerhin...) und in 3 Prozent der Fälle wurde die Aggression sogar verschärft. Das klingt zunächst einmal wenig erfolgreich. Allerdings ist es, wie Ryan Broderick auch auf Garbage Day feststellt, für die Verhältnisse digitaler Kommunikation ziemlich bedeutend, wenn die Aggression in auf dies Art verringert wird. Das sind Tausende und Abertausende von harschen Tweets weniger. Tatsächlich kann die Studie auch zeigen, dass Menschen, deren Tweets angemahnt wurden, danach weniger aggressive Tweets abgesendet haben, es also einen Lerneffekt gibt.
Die Studie hat weitreichende kommunikationstheoretische Implikationen. Offenbar verändern Menschen ihr Kommunikationsverhalten, wenn sie von einer höhere Instanz dazu angehalten werden. Mahnungen, Regeln, vages Ausschimpfen - alle die Dinge also, die dem verwirrten libertären Zeitgeist unserer Gegenwart so zuwider sind, haben eine positive Wirkung. Was das Feature im Endeffekt macht, ist einen mehr oder weniger effektiven impliziten Leser in der Produktion von Tweets zu installieren, eine Stimme im Kopf, die davor warnt, mit dem erstbesten Impuls, den man beim Scrollen durch die Timeline hat, davonzurennen.
Dabei folgt das Feature der Nudge-Theorie gesellschaftlicher Einflussnahme. Das Konzept "Nudge" wurde von Richard Thaler und Cass Sunnstein in ihrem Buch Nudge: Improving Decisions about Health, Wealth, and Happiness popularisiert. Die Hauptthese des Buches lautet, dass Menschen sich durch oft einfache Anreize beeinflussen lassen, ohne dass dabei institutionalisierte Verbote oder Gebote zum Einsatz kommen müssen. Ein Beispiel ist der Ort, wo in der Mensa das Obst platziert ist und wo die Süßigkeiten. Menschen, allem Anschein nach ziemlich einfach gestrickte Tiere, nehmen das mit größerer statistischer Häufigkeit mit, was am Anfang dieser Schlange liegt. Ähnlich soll auch das Warnungsfeature auf Twitter funktionieren: kein Verbot, sondern ein kleiner Schubs in Richtung einer zivileren Form der Kommunikation.
Das Bild der User*innen, das hier entsteht, ist natürlich alles andere als schmeichelhaft. Wir sind demnach leicht entflammbare Wutbündel, die sich aber durch einfache Formen des Schubsens wieder beruhigen können. Das war allerdings schon immer so, und wird sich auch in naher Zukunft nicht ändern. Vielleicht handelt es sich sogar um eine anthropologische Grundkonstante. Viel wichtiger wäre, über die strukturellen Voraussetzungen öffentlicher Kommunikation zu sprechen. Die Digitalisierung hat in dieser Hinsicht einen ungeheuren Energieschub bewirkt - jetzt wäre die Frage, wie dieser Schub in geregelte Bahnen geleitet werden kann.
Die guten Texte
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Die Modemarke "Abercormbie & Fitch" hat eine problematische Geschichte. Darüber schreibt Kais Harrabi auf 54books.
Und: ein Song.
Die guten Tweets
[tweet https://twitter.com/Daybed100/status/1533867325719445510]