Haben Kinder ein Gefühl für ästhetischen Cringe?
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt.
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Ästhetische Wachstumsschmerzen
Vor zwei Wochen ging es hier um das Thema falsch erinnerter Bücher. Es handelt sich um ein bekanntes Problem, das alle Menschen, die lesen, kennen: man vergisst Bücher in rasender Geschwindigkeit. Schon bald nach der Lektüre sind Szenen, Figuren, Handlungsstränge verschwunden. Lohnt es sich vor diesem Hintergrund überhaupt, ein Buch zu lesen, das man nicht mit vielen Anstreichungen und einem Exzerpt mühsam dokumentiert? Oder ist es vielleicht sogar gut, dass die Erinnerung an Geschichten rasch wieder versandet? Das ist inzwischen auch Thema einer Podcast Folge im Deutschlandfunk Kultur, die man hier nachhören kann.
Ich habe auf meine Frage, wie das sich bei den Leser*innen verhält, viele spannende Rückmeldungen bekommen. Insgesamt ist mir eine gewisse Erleichterung darüber aufgefallen, dass es anderen auch so geht. Diese Erleichterung zeigt, wie stark unsere Vorstellung von Lesen, gerade im Hochkultursegment nach wie vor von den Mythen geprägt ist, die sich um das Konstrukt einer disziplinierten akademischen Lektüre ranken. Menschen denken dann, dass andere Menschen mehr, besser, konzentrierter lesen, was aber - wenn man sich den Alltag der Lektüre anschaut - eigentlich nie stimmt. Die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Lesen ist in dieser Hinsicht nach wie vor nicht besonders hilfreich, weil sie sich entweder mit einem theoretischen Fantasiefigur (der 'Leser' der Rezeptionstheorie) oder gleich mit kognitionspsychologischen Fragen beschäftigt.
Ein Aspekt, den ich besonders interessant finde, betrifft die Frage, wie, wann und warum sich unser Lesen auf dem Weg ins Erwachsenenalter verändert. Jan Fischer hat in einem Thread darauf hingewiesen, dass bei ihm das Bewusstsein für die Gemachtheit der fiktionalen Erzählwelten, in die er als Kind verschwinden konnte, das Ende des kindlichen Lesens bedeutet habe.
Das Bewusstsein für diese Gemachtheit geht mit einem Bewusstsein für handwerkliche Qualität einher. Natürlich bewerten auch Kinder Bücher, aber vielleicht aus anderen Perspektiven, die auf andere Bedürfnisse verweisen. Stil zum Beispiel scheint etwas, was vielleicht erst von Erwachsenen als eine problematische ästhetische Größe wahrgenommen wird. Problematisch vor allem deshalb, weil ein Stilbewusstsein sich vor allem dann bemerkbar macht, wenn schlechter Stil die Freude an den Figuren etwa oder an der Handlung zu stören beginnt. Eine Leserin schrieb, dass sie als Kind Astrid Lindgrens "Mio, mein Mio" geliebt habe, jetzt aber, wenn sie das Buch ihrem Kind vorliest, den schlimmen Kitsch kaum noch ertragen kann: "Ständig weinen alle Pferde und Schwäne und Blumen, so ein Schmalz!"
Allerdings schreibt sie, dass es ihren Sohn eben auch extrem stören würde. Dementsprechend ist es wohl nicht ganz richtig, davon auszugehen, dass Kinder kein Gefühl für ästhetischen Cringe habe. Auch hier würden mich Erfahrungsberichte sehr interessieren. Ich kann mich jedenfalls noch erinnern, dass alle Bücher und Filme, die meine hedonistischen Erwartungen erfüllt haben, für mich als Kind auch ästhetische Meisterwerke waren, und dazu gehören Filme eben Bücher wie "Der verrückte Professor" oder "Flubber". Dass es verschiedene Stillagen gibt, habe ich damals nicht verstanden, ganz zu schweigen von einem Unterschied zwischen high und low.
Diese Unterscheidungen und Kategorien scheinen sich erst mit der Zeit voll auszubilden. Es handelt sich um einen nicht immer schmerzfreier Prozess. Ein Leser etwa berichtete davon, wie stark es ihn erschreckt habe, als er mit 14 wieder in die Fantasy-Bücher geschaut habe, die er in seiner Kindheit gelesen habe, weil es meist "grauenhafter Schund" gewesen sei. Der Schock des ersten Schlechtfindens eines Buches ist der Beginn des erwachsenen Geschmacks.
Ein gutes Webcomic
Ein kurzer Zwischenstand
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Die guten Texte
Wer entscheidet, was Geschichte wird? Louis Menand hat im "New Yorker" ein Buch über Geschichtsschreibung besprochen. Eine neue Biographie über den amerikanischen Bürgerkriegsgeneral Rober E. Lee hat viele blinde Flecken, wie man in diesem Review Essay erfahren kann. Was geschah eigentlich mit Jon Stewart, dem Host der Daily Show? Hier kann man mehr darüber lesen.
Und: ein Song.
Die guten Tweets
[tweet https://twitter.com/TillRaether/status/1517021658636238848]