Gute Dorfnazis, böses Bullerbü
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt. Wer sich für Streitereien und Debatten über Bücher, Filme, Musik, Serien und viele andere Dinge, die uns entzweien, interessiert, der ist hier an der richtigen Stelle. Dieser Newsletter hat (noch) keine feste Form. Er ist mein Experimentierfeld für ein gegenwartsnahes Schreiben über Kultur. Ich freue mich, wenn ihr dabei seid.
Die Knorrigkeit der Vornamenliteratur
Eine "Verdorfung der Literatur" hat Julia Encke gerade in der FAS diagnostiziert. Juli Zeh, Judith Herrmann, Angelika Klüssendorf und andere haben in letzter Zeit Dorfromane vorgelegt, und man könnte sagen, es handelt sich um die gerechte Strafe dafür, dass Schriftsteller*innen seit Jahrzehnten der Leitsatz "Write what you know" eingebläut wird. Denn diese stoffgeschichtliche Konjunktur hat, wie Encke andeutet, damit zu tun, dass viele Autor*innen aufs Land gezogen sind. Es wirkt fast so, als wäre die Hälfte der Uckermarck inzwischen von Romanschreiber*innen bevölkert. Die andere Hälfte müssten dann aus Romanfiguren bestehen, die als Objekte der Romantisierung herhalten müssen: "Denn das gehört zur DNA der neuen deutschen Dorfliteratur: die Knorrigkeit der Dorfeinwohner, die gern beim Vornamen genannt und in ihrer Eigentümlichkeit detailliert beschrieben werden wie besonders interessante Zirkuspferde."
Neben der ästhetischen Ödnis dieses Trends, ist eine weitere Schattenseite, dass sich diese kulturelle Landlust schnell und effektiv politisch instrumentalisieren lässt. Die zahlreichen Homestorys über das Rittergut Schnellroda etwa, die vor einigen Jahren in allen Zeitungen standen, lesen sich teilweise bereits wie die Entwürfe zu einem schaurig-gemütlichen Dorfroman. Das klang dann z.B. so: "An einem Abend im April, als sich die Sonne über Schnellroda senkt, nimmt der Hausherr einen Kochtopf in die Hand und betritt den Stall. Schmutzig ist es dort, von den Wänden bröckelt der Putz, und an den Gummistiefeln klebt der Kot." Das Dorf bzw. die Kleinstadt sind Orte, an denen man vage anti-moderne Affekte durchspielen kann, vor allem in der Fiktion.
Dahinter kann ein Bedürfnis nach Ruhe und Simplizität stehen, oder aber auch ein Bedürfnis nach einer maskuliner Härte, die im verweichlichten Stadtleben verloren gegangen ist. Und daraus kriecht dann schnell die liebevolle Figure des (Ex)Dorf-Nazis hervor, der vom Gewalttäter zum Original gewandelt hat. Eine solche Figur ("Gote") gibt es etwa in Juli Zehs Roman "Über Menschen". In einer ziemlich genervten Rezension in der Zeit hieß es darüber: "Und wenn Gote Dora von einem Höhepunkt seiner Jugend erzählt, dann ist das die Busreise nach Rostock-Lichtenhagen, wo man damals die Unterkünfte vietnamesischer Vertragsarbeiter anzündete: 'Abends Pyro, Bier und geile Stimmung. War ein Volksfest.' Um Dora ist es da aber längst schon geschehen. Sie sieht in Gote mehr, sie sieht: den Menschen." Das klingt in jeder Hinsicht unangemessen, und man fühlt sich erinnert an das, was Manja Präkels 2017 in ihrer Kritik zur halb affirmativen Darstellung der harten Jungs in Moritz von Uslars "Deutschboden" geschrieben hat: "Die Betroffenen leben in Angstzonen, die für all jene unsichtbar sind, die nichts zu befürchten haben."
Die politische Unbedarftheit mancher zeitgenössischer literarischer Entwürfe zum Thema Stadt/Land/Nazi scheinen mir auch damit zusammenzuhängen, dass hier eine ziemlich erfolgreiche Lifestyle-Ästhetik in tiefsinnige Formen des Erzählens umgesetzt werden soll. Jörg-Uwe Albig hat diesen Prozess in seiner Satire "Zornfried" brillant dramatisiert. Hier schwafelt der rechtsradikale Burgherr über kulinarische Dinge, z.B. über Löwenzahn: "Sein Honig ist ja delikat. Im Mangold hat man ihn aber trotzdem nicht gern." Und die angereisten Journalist*innen sehen darin vor allem das narrative Gold einer personalisierbaren Aussteigergeschichte. Diese Wald- und Wiesenästhetik durchdringt nicht nur die Literatur, sondern auch die Autorinszenierung, teilweise nah an der Grenze zur Selbstparodie. Sehr viel Spott erregte auf Twitter zuletzt ein Format, in dem Juli Zeh und Denis Scheck auf Pferden durch den Wald reitend über Literatur sprechen.
Verflucht sei Bullerbü
Ein weiterer hilfloser Versuche, die Symbolpolitik der Culture Wars nach Deutschland einzuführen, zeigte sich, als Christian Lindner davor warnte, die Grünen wollten Berlin in ein Bullerbü verwandeln, in eine „ländliche Idylle mit Lastenfahrrad.“ Der Bezug auf die beliebte Kinderbuchreihe von Astrid Lindgren wurde hier als Schreckensszenario einer Welt ohne Wirtschaft aufgebaut – ein Versuch, das Leitbild des politischen Gegners als nicht erwachsen abzutun.
Interessant ist in diesem Fall zunächst der politische Referenzrahmen, der hier aufgemacht wird. Literarische Orte, Figuren oder Titel werden oft als Waffen in politischen Kämpfen verwendet, gerade auch, um den Gegner abzuwerten. Historische Beispiele sind etwa das „Narrenschiff“ oder die „Schildbürger“. Mit dem Inhalt der literarischen Werke hat das dann oft nicht mehr viel zu tun. Berit Glanz hat in einem kurzen Thread gezeigt, dass Lindner die Bullerbü-Bücher gar nicht gelesen haben kann. Der zeitgenössische Konservatismus steckt in einer nicht immer würdevollen Identitätskrise, das kann man daran erkennen, dass zwischen der Warnung vor einem neuen „1984“ und einem neuen „Bullerbü“ oft kaum eine Handbreit liegt. Der eh sehr empfehlenswerte Twitter Account des Reclam Verlags hat dieses Beobachtung für ein lustige Mitmachfrage aufgegriffen.
Ein weiterer Account hat im Kontext dieser Auseinandersetzung auf einen interessanten Essay von Bertold Franke hingewiesen, der 2008 im Merkur erschienen ist. Der Autor setzt sich hier kritisch mit dem auseinander, was er das „Bullerbü-Syndrom“ nennt – eine affirmative, eigentlich mythische Vorstellung von Schweden, die im deutschen Bürgertum weit verbreitet ist und einen ganzen Zweig der Tourismusindustrie geprägt hat. Man bekommt aus diesem Text auf jeden Fall einen Eindruck, aus welchen soziokulturellen Voraussetzungen sich das panische Schreckensbild vom desindustrialisierten Büllerbü bedient. Mit der abwägenden und plausiblen Kritik einer linksliberalen Kitscherzählung, wie bei Franke, der im „Bullerbü-Syndrom“ ironischerweise einen reaktionären Backlash erkennt, hat das nicht mehr viel zu tun.
Ich muss an dieser Stelle übrigens gestehen, dass sich Bullerbü für mich weder als Utopie, noch als neuerdings unplausibles Schreckensszenario so recht für mich erschließt. Das mag daran liegen, dass ich die Bücher von Lindgren (Mio, Ronja Räubertochter und vor allem Die Gebrüder Löwenherz) als ziemlich bedrohliche, dunkle Erzählungen erinnere, die ich vor allem mit einer (durchaus angenehmen) Beklommenheit gelesen habe. Astrid Lindgren war mein Stephen King. Die Frage wäre auch, ob das nicht immer schon Teil des deutschen Schwedenbilds gewesen ist. Immerhin haben sich deutsche Leser*innen auch den fast schon pornographisch deprimierenden Wallander gefallen lassen. Auch dazu hat Bertolf Franke übrigens eine Theorie. Er nennt sie das Ystad-Syndrom: "Vor der Kulisse der relativen Unversehrtheit der moralischen Landschaft Schwedens lassen sich solche Spiele des Entsetzens allerdings besonders wirkungsvoll inszenieren"


Verrohungserscheinungen
Der Bezug auf Bullerbü als Schreckenswelt ist im Übrigen auch ein gutes Beispiel für ein weiteres irritierendes Phänomen der Gegenwart: die frivole Übertreibung, mit der im politischen Diskurs Analogien verwendet werden. Gerade hat der Komiker Dieter Hallervorden geschlechtergerechte Sprache mit Vergewaltigung verglichen. Margarete Stokowski hat zu dieser Art des unangemessenen Vergleichens eigentlich alles gesagt. Der kulturelle Rahmen, in dem diese Vergleiche stattfinden, scheint jedenfalls von einer großen Panik geprägt zu sein; ansonsten wären die Referenzen nicht dermaßen hyperbolisch. Diese Panik ist natürlich eine gute Grundlage, um mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen.
So lässt sich zumindest erklären, warum immer mehr und immer weniger plausible Promis herbeigezerrt werden, um sich zu Fragen wie dem Gendern zu äußern. Am Ende werden dann eben auch H.P. Baxxter („Hyper, Hyper“) und Didi Hallervordern („Palim Palim“) dazu befragt, um aus dem Thema noch den letzten Retweet und den letzten Kommentar zu pressen. Medien leben von Aufmerksamkeit, und in Zeiten digitaler Medien bringt vor allem das Aufmerksamkeit, was zur Identifikation einlädt und öffentliche Stellungnahmen ermöglicht. In dem Moment, wo H.P Baxxxter zum Thema gendergerechte Sprache befragt wird, haben wir es vielleicht gar nicht mehr mit einer ideologischen, sondern mit einer medienethischen Frage zu tun.
Wie dem auch sei: Es wird gerade in den letzten Jahren zuweilen eine Verrohung des Diskurses, insbesondere in den sozialen Medien, beklagt. Allerdings kann man sich mit Blick auf die teilweise absurden Vergleiche in den etablierten Medien auch die Frage stellen, ob wir es nicht mit einer Verrohung der Analogien zu tun haben. Als im März 2020 eine Gruppe von Rowohlt-Autor*innen einen, wie ich finde, recht vorsichtig formulierten Brief an den Verlag schickten, mit der Forderung die Veröffentlichung von Woody Allens Memoiren noch einmal zu überdenken, war in den Feuilletons keine historische Analogie zu krass, um diesen Vorgang zu beschreiben. Gerade wurde ein Text von Anne Applebaum viel diskutiert und geteilt, der erneut vor der Illiberalität emanzipatorischer Bewegungen an amerikanischen Universitäten warnt. Und selbst dieser vergleichsweise zurückhaltende Text beschwört: den Stalinismus, die Puritaner, Erdoğans Türkei, die Inquisition etc. Der Artikel wurde dazu noch mit mehreren Bildern illustriert, die Twitter als Guillotine darstellen.
Das wirkt nicht nur wahllos, sondern ist auch historisch unanständig. Zudem verhindert es, dass man sich ernsthaft über die existierenden Probleme austauschen kann, die durch die neue Öffentlichkeit erzeugt wurden. Die Fälle, die im Text geschildert werden, sind ja durchaus bedenkenswert, verlieren allerdings ihre Gravitas, wenn man sie mit allen möglichen Greul der Geschichte vergleicht. Man begibt sich dadurch auch in seltsame Gesellschaft. Hallervorden jedenfalls lässt sich mit den Worten zitieren: „Natürlich entwickelt sich Sprache. Aber sie entwickelt sich nicht von oben herab auf Befehl. Es hat in der letzten Zeit nämlich zwei Versuche gegeben. Einmal von den Nazis und einmal von den Kommunisten. Beides hat sich auf Druck durchgesetzt, aber nur temporär - und zwar auf Zwang.“
Die guten Texte
Berit Glanz schreibt in ihrem Newsletter Phoneurie über #pimmelgate. Zukünftige Politikwissenschaftler werden dicke Bücher über diesen Fall schreiben, der den Glamour und das Elend von Öffentlichkeit in Zeiten von Twitter auf’s Herrlichste illustriert. Letzte Woche ging es auch um Sally Roony, und wie ihre Bücher ein gewisses Misstrauen erzeugen - ein Misstrauen, das auch in dieser abwägenden und klugen Rezension ihres neuen Buches eine Rolle spielt. Till Rather schließlich widmet sich in einem grundlegenden Essay der Frage nach der Verantwortung des Krimiautors.
Die guten Tweets



Überhaupt sehr vielversprechend sieht der Account "frasier looking at video games" aus.