Kultur & Kontroverse

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Ghostwriting auf Augenhöhe

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Ghostwriting auf Augenhöhe

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Nov 29, 2022
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Ghostwriting auf Augenhöhe

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Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt.


Produktionsästhetik der Manufaktur

Der Schriftsteller James Patterson ist einer der erfolgreichsten Vielschreiber aller Zeiten. Die über 200 Bücher, die seit den 1970er Jahren entstanden sind, haben den Autor nicht nur berühmt gemacht, sondern auch sehr reich. Sein Vermögen wird auf viele hundert Millionen Dollar geschätzt. Patterson ist einer jener Autoren, die den Kanon der Bahnhofsbuchhandlungen beherrschen, ein Klassiker der „airport novel“, die von Literaturkritik und Literaturwissenschaft verschmäht, von nicht-professionellen Leser*innen aber geliebt wird.  

Diesen ungeheuren Erfolg verdankt er einer Vielzahl von Mitarbeiter*innen und dem Prestige, das in der Celebrity Culture der Moderne an den Namen eines Autors geknüpft wird. Für den Literaturwissenschaftler Clayton Childress ist Patterson ein Beispiel für die „Name Economy“, die den literarischen Markt der Gegenwart bestimmt. In seiner Studie Under the Cover geht Childress unter anderem auf die Winner-Takes-All Ökonomie des zeitgenössischen literarischen Lebens ein, in dem vor allem der Name des Autor die Bücher verkauft.

Ein faszinierendes Beispiel dafür, was „Name Economy“ für ihre Gewinner bedeuten kann, ist die Erzählung „Ur“, die Stephen King 2009 zunächst ausschließlich für den Amazon Kindle veröffentlichte. Offenbar hatte der Autor für das Schreiben des Textes drei Tage gebraucht. Childress zitiert einen ziemlich gut gelaunten King mit den Worten: „Ich habe etwa 80.000 Dollar verdient. So viel würde man niemals für Kurzgeschichten im Playboy oder sonst wo bekommen.“ Ein solcher Erfolg ist natürlich an das Prestige des Namens gebunden, der die Aufmerksamkeit generiert, die für einen solchen finanziellen Erfolg nötig ist. So groß kann das Prestige des Namens sein, dass selbst die Verlage, die lange Zeit die wichtigste Tauschbörse für kulturelles Kapital darstellten, umgangen werden können. 

Man hat den Eindruck, dass die Autorfunktion – ein inzwischen fast ehrwürdiges literaturtheoretisches Konzept – sich heute vor allem im Erwartungsmanagement erschöpft. Ein bekannter Name kann den Leser*innen dabei helfen, sich in der schieren Masse der Publikationen zurecht zu finden. Die meisten Menschen lesen nur wenige Bücher im Jahr und die Verfasser*in eines Buches erscheint als die Größe in einem unübersichtlichen literarischen Feld, die das Bedürfnis nach ästhetischer Verlässlichkeit am besten befriedigen kann. Das gilt auch für die Verlage, die sich von großen Namen finanzielle Verlässlichkeit in einem Geschäft versprechen, das notorisch unkalkulierbar ist.

Es erscheint deshalb fast naheliegend, in dieser Ökonomie Autor und Werk voneinander zu entkoppeln, indem die eine Seite den Namen beisteuert und die andere das Werk. James Pattersons Schaffen etwa folgt einer Produktionsästhetik der Manufaktur, in der eine Reihe von Schreibenden unter seiner strengen Aufsicht einen neuen Patterson nach dem anderen produzieren. Für die Leser*innen ist diese Produktionsweise offenbar kein Problem, sonst würden sie diese Bücher nicht konstant zu Bestsellern machen.

Heute kommt Name Economy vor allem darin zum Ausdruck, dass Popstars oder Schauspieler Romane schreiben. Allein der literarische Output von Tatort-Darstellern wie Ulrich Tukur, Matthias Brandt oder Axel Milberg erscheint inzwischen unüberschaubar. Was hier stattfindet, ist eine Art Tauschgeschäft des kulturellen Kapitals. Die Stars investieren ihre Popularität, die Verlage das literarische Prestige einer Veröffentlichung. So lassen sich dann wiederum die literarischen Veröffentlichungen querfinanzieren, die den Verlagen das hochliterarische Prestige überhaupt erst eingebracht haben – allerdings sicher nicht die Gehälter der Angestellten oder die Büromiete bezahlen.  

Patterson, ein genialer Ökonom des kulturellen Kapitals, hat das Potential auch dieser Tauschbörse erkannt. Er schreibt inzwischen Romane zusammen mit Prominenten wie Bill Clinton und zuletzt mit der Sängerin und Schauspielerin Dolly Parton. Das sind natürlich nicht die Kooperationen, wie sie ansonsten die Produktion der Manufaktur von Patterson ausmachen. Im Gegenteil, hier werden extrem berühmte Ko-Autor*innen in den Produktionsprozess eingebunden.

Dabei geht es nicht – wie man zunächst vermuten würde – um Autobiographien oder Sachbücher, sondern um Romane. Patterson ist kein klassischer Ghostwriter eines Prominenten, der Celebrities mit seinem erzählerischen Talent unter die Arme greift. Was hier betrieben wird, ist Ghostwriting auf Augenhöhe. Der Autor steuert sein schriftstellerisches Talent bei, die Prominenten ihr überlegenes Wissen und ihre spannenden Geschichten. “Write what you know” heißt ein Dogma des kreativen Schreibens. Im Fall dieser Kooperationen schreibt ein Autor aber auf, was andere wissen. Die Romane, die in Ko-Autorschaft mit Clinton enstanden, sind Polit-Thriller (The President is missing, The President’s Daughter), der Roman mit Dolly Parton (Run, Rose, Run) erzählt von einer jungen Country-Sängerin.

Diese mehrfache Verdopplung von kulturellem und sozialem Kapital in der Tauschbörse der Name Economy kann natürlich auch Nachteile haben. Das negative Prestige, das an einem Namen hängt, kontaminiert den anderen und damit die gesamte Kooperation. Patterson hat, selbst in der Unterhaltungsliteratur, einen schlechten Ruf und wird oft für die teilweise gewaltpornographischen Aspekte seiner Romane kritisiert. Die Romane, die er mit Prominenten geschrieben hat, waren natürlich große finanzielle Erfolge, haben allen Beteiligten aber auch viel Spott eingebracht. 

Ein gutes Webcomic

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zach @extrafabulous
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1:20 PM ∙ Nov 21, 2022
17,849Likes1,882Retweets

Die guten Texte

Ein spannender Essay über Thomas Huxley und seinen Enkel Julian - zwei engagierte Wissenschaftler und Essayisten der Moderne.

Ein Essay über die den Pixar Klassiker Wall-E und wie er die Zukunft vorausgesagt hat.

Der Film "Tár" wird in den USA bereits als komplexes Meisterwerk über Kunst, Künstler*innen, "Cancel Culture" und die Rolle der Öffentlichkeit gefeiert.

Die guten Tweets

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Nova Saint @novasaint66
niemand: true crime podcasts: dann hat der meuchler mörder von mölln die leichenteile in einem großen sack transportiert wisst ihr was noch in großen säcken transportiert wird? eure bestellung bei koro koro eure onlinedrogerie jetzt mit dem code „mord24“ 40 prozent sparen
3:43 PM ∙ Nov 25, 2022
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vierpferde @vierpferde
Hast du hier irgendwo eine Leiche versteckt oder sind das die MEW Bände?
8:56 AM ∙ Nov 11, 2022
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Michael Hutchins @hutchimd
Book proposal: have you ever heard of this dude Sebald? Oh. Ok. I thought not. Ok…so…um…there was this dude named Sebald…..
4:54 AM ∙ Nov 11, 2022
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