Fiktiver Sex
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt. Wer sich für Streitereien und Debatten über Bücher, Filme, Musik, Serien und viele andere Dinge, die uns entzweien, interessiert, der ist hier an der richtigen Stelle.
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Christopher Nolan muss weg
In jeder Saison gibt es eine Serie, die vordergründig schlecht gemacht ist und die trotzdem alle schauen müssen. Momentan scheint diese Serie "The Morning Show" auf Apple TV zu sein. Ich habe sie noch nicht gesehen, lese aber mit großem Genuss die Rezensionen. Unter anderem diese von Kathryn VanArendonk, in der sich folgende sehr gute Passage befindet: "All das wird der Tatsache nicht gerecht, dass diese Staffel von 'The Morning Show' vor allem einfach nur seltsam ist. Die Charaktere treffen Entscheidungen, die überhaupt keinen Sinn ergeben, und sie tun dies mit einer Regelmäßigkeit, die den halben Reiz der Serie ausmacht. Es ist wie eine mittelalterliche Illustration eines Elefanten, gezeichnet von einem Künstler, der noch nie einen Elefanten gesehen hat."
In die gleiche Kerbe schlug auch Sophie Gilbert vom Atlantic, eine meiner absoluten Lieblingsfeuilletonistinnen momentan. Sie ernannte "The Morning Show" sogar zu einem "Camp Masterpiece". Der Beginn ihres Textes ist nicht nur ein gutes Beispiel, wie man einen kulturjournalistischen Text anfangen sollte, sondern enthält eine halbe Theorie der ästhetischen Wertsetzung in der Gegenwart:
"Nach vier Episoden der neuen Staffel von 'The Morning Show' auf Apple TV+ habe ich aufgehört, die Qualitäten einer Prestigesehserie zu erwarten - erzählerische Komplexität, emotionale Resonanz, Logik - und begonnen, sie einfach als das zu genießen, was sie ist: eine der absurd-teuersten Seifenopern, die je produziert wurden. Und sie ist perfekt. Tiefdunkle Dramen, in denen Oscar-Preisträger müde an Vape-Pens kauen oder versuchen, den nuklearen Fallout zu überleben, um etwas über die Moderne zu sagen, gibt es wie Sand am Meer - der Überfluss des Peak TV. Was seltener vorkommt, ist diese Show, die Apple uns versehentlich geschenkt hat: ein Fest aus High-Camp und Spätkapitalismus."
Diese implizite Polemik gegen die bierernsten HBO-Männerserien, die ihr Camp-Potential mühsam unter einer ranzigen Schicht aus Sex, Gewalt und sozialer Analyse verbergen müssen, folgt einem Trend im Fernsehjournalismus der letzten Jahre - Fernsehen als eigenständiges Medium (und nicht als den "neuen Roman" oder "neuen Film") ernst zu nehmen. In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Emily Nussbaum, die Fernsehkritikerin des New Yorker, wenn sie das Prestige einer männlich geprägten (filmischen) Serie mit dem Mangel an Respekt vergleicht, dem eine (fernsehige) Serie wie Buffy im Hochkultursegment immer noch ausgesetzt ist.
Man hat jedenfalls den Eindruck, dass die Geduld der Gegenwartskultur mit den tiefen, dunklen, brutalen "Quality TV" Serien langsam erschöpft ist. Das hat auch mit der Pandemie zu tun, die den Hunger auf Elendserzählungen, so zumindest mein Eindruck, etwas gedämpft hat. Das lässt sich daran ablesen, dass ästhetische Erfahrungen, die bisher nur in der Peripherie des offiziellen Diskurses existieren durften - wie Guilty Pleasures oder der Comfort Binge - immer mehr ins Zentrum des kulturellen Gesprächs drängen.
Dazu gehört auch eine Rehabilitierung von Camp als ästhetisches Phänomen, nicht im Sinne seiner Intellektualisierung im Stil von Susan Sontag, sondern als alltägliches Genussmittel. In einer aktuellen Folge des Podcasts "Sentimental Garbage" geht es um Titanic, ein Film, der zunächst im Hochkultursegment schwer belobigt wurde, bis sich der rezeptionshistorische Umstand verfestigte, dass junge Frauen ihn mochten. Die Folge war Dekanonisierung. Das Gesichts des Films war nun nicht mehr James Cameron, sondern Céline Dion. (Eine sehr lesenswerte geschmackssoziologische Studie über Dion findet man übrigens hier).
Eine beiläufige Bemerkung aus dem Podcast fand ich dabei sehr interessant, nämlich dass Christopher Nolan Camp aus Blockbustern vertrieben habe. Camp ist in Titanic natürlich allgegenwärtig, vor allem in der von Billy Zane verkörperten Schurkenfigur, und das rettet den Film vor der Peinlichkeit des eigenen Pathos. Erst mit The Dark Knight etc. verschwindet Camp langsam auch aus den großen Produktionen und plötzlich muss das gesamte Popkorn-Kino im Modus des "gritty reboot" stattfinden. Diese ästhetische Tendenz scheint allerdings langsam erschöpft, und man wird sehen, wohin sich die Wertungsmuster in Zukunft verschieben werden.
Ein Video über unangenehme Akademiker
Fiktiver Sex
Der ganze Bereich der Fan Fiction, wo Fans eines narrativen Universums mit vorhandenen Figuren und Handlungsbögen allerlei Schabernack treiben, ist für mich eine ständige Quelle der Faszination. In einem Gastbeitrag auf Garbage Day ging es diese Woche um die Fan Fiction zur Serie Succession. Dabei wurde auch die extrem nervöse erotische Energie vieler Fan-Fiction-Communities thematisiert, die aus wirklich jedem Anlass die Möglichkeit für fiktiven Sex herauspressen. Das gilt für Wolf Kink Erotica (darüber hatte ich hier einmal für die FAZ geschrieben) bis hin zu - man möchte es kaum glauben - Sex mit dem Corona-Virus.
Auf Garbage Day wurde die Geschichte erzählt, wie um das - auf den ersten Blick nicht gerade plausible Paar - James Bond und Q im Film Skyfall ein regelrechter Kult der Slash-Fiction enstanden ist: "A couple of scenes with the two characters together provided enough of a hint at chemistry for fans to determine that they needed to fuck." Q, der in dieser Manifestation von Ben Wishaw gespielt wird, wurde zum "Number One Shippable Twink" ausgerufen. "Shipping" bedeutet im modernen Fandom laut Wikipedia: "das Spekulieren über eine sich anbahnende romantische Beziehung oder sexuelle Anziehung zwischen bestimmten Charakteren oder den Wunsch nach einer solchen Beziehung, auch wenn die entsprechende Paarung oftmals von den Autoren des jeweiligen Werks nicht vorgesehen ist und nicht in der 'offiziellen' Handlung ('Kanon') thematisiert wird."
Diesem hemmungslosen Spekulieren und Ausmalen sind keine Grenzen gesetzt, ein ganzer Kanon erotischer Fantasien der Gegenwart wird im Vehikel der Fan Fiction einfach aufgeschrieben und veröffentlicht. Dass diese Explosion erotischer Fantasien auch eine dunkle Seite hat, ist nicht überraschend. Mit einem gewissen Schrecken erinnere ich mich noch an diesen schon etwas älteren Text von 2012 über Fan Fictions zu konservativen Politikern, insbesondere zu Mitt Romney und Paul Ryan, deren sexuelle Vereinigung offenbar eine Zeit lang ein beliebtes Thema war. Der Autor schrieb damals: "Es macht Sinn, dass Romney und Ryan in die schwitzige Fantasie von Fan-Fiction-Autoren geraten, vor allem, weil das Genre gerade in Mode ist." Dann werden mit genussvoller Schadenfreude allerlei Beispiele zitiert.
Es erscheint fast absurd übergriffig, reale Menschen zum Gegenstand von publizierten pornographischen Narrativen zu machen. Das gilt auch, und vielleicht gerade dann, wenn dieser narrative Übergriff im Dienst einer politischen Polemik steht. Larry Flints Who’s Nailin’ Paylin?, der 2008 anlässlich der Präsidentschaftswahl in den USA veröffentlicht wurde, gehört in diese Kategorie. Das heißt natürlich nicht, dass ein großer Teil der Fan Fictions in dieser Tradition steht! Die Fiktivität der Figuren und die Sympathie für die Paare entlastet die meisten dieser Erzählungen von den ethischen Problemen, die mit dem narrativen Eigentumsrecht realer Personen einhergehen.
Aus der Wunderwelt der ästhetischen Theorie
Die guten Texte
Julia Encke hat in der FAS eine notwendige Polemik über einen Tiefpunkt der deutschen Fernsehphilosophie veröffentlicht. Louis Menand setzt sich im "New Yorker" mit dem Generationenbegriff auseinander und fordert dazu auf, nicht mehr von Generationen zu sprechen. Und Irina Dumitrescu rezensiert einen Roman über fleißige Nonnen.
Die guten Tweets
[tweet https://twitter.com/John_Attridge/status/1462701966820196354]