Feuilletonistisches Theaterfechten, oder: Tellkamp nicht lesen?
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt.
Wie lässt man eine Debatte ausfallen?
Es gibt Neuigkeiten aus der Dresdner Kulturlokalpolitik. In einem frenetischen Tweet freut sich der Account des BuchHauses Loschwitz, dass im Mai nun endlich (!) der neue Roman von Uwe Tellkamp erscheint. Dem BuchHaus Loschwitz steht Susanne Dagen vor, die im Kuratorium der AfD-nahen Erasmus-Stiftung sitzt und auf Youtube den Kanal "Mit Rechten Lesen" kuratiert. Da liegt die Freude über diese Neuerscheinung natürlich nahe, zumal Tellkamp seine offenbar sehr seltsame Erzählung Das Atelier in der Edition BuchHaus Loschwitz veröffentlicht hat. Nun aber kommt das neue Opus bei Suhrkamp, 900 Seiten stark, ein "Mammutroman", um ein Lieblingswort des deutschen Feuilletons zu zitieren.
Ich muss gleich zugeben, dass ich schon den Werbetext nach dem ersten Satz abbrechen musste. Der Lautet nämlich: "August 2015: Fabian Hoffmann, der einstige Dissident, steht als Chronist in Diensten der 'Tausendundeinenachtabteilung' von Treva." Ich denke, jeder Mensch, dem seine Zeit wichtig ist, kann die Unlust verstehen, die restlichen geschätzt 500 Zeichen der Ankündigung zu lesen, geschweige denn die 1.600.000 Zeichen des Romans, der den wenig verheißungsvollen Titel Der Schlaf in den Uhren trägt, und der sicherlich alle die politischen Provokationen enthält, mit denen der Autor in den letzten 10 Jahren seine Tage gefüllt hat, plus die pompöse, bildungsgesättigte Thomas-Mann-Emulation seiner Prosa, wie man sie aus dem Erfolgsroman Der Turm von 2009 bereits kennt.
Was mich allerdings viel mehr besorgt, als ein Roman, den man ja einfach nicht zu lesen braucht, wenn man keine Lust darauf hat, ist die Debatte, die mit einer gewissen Zwangsläufigkeit stattfinden wird. Es ist zu befürchten, dass die Feuilletons für Wochen leergeräumt werden, um das Diskussionsereignis, das diese Publikation verspricht, richtig auskosten zu können. Diese Sorge ist nicht unbegründet. Immerhin hat die Welt schon im Februar 2020 eine ganze Seite nur mit Mutmaßungen und Stellungnahmen von bekannten Autor*innen darüber gefüllt, wo denn dieser Roman nun eigentlich bleibe. So wurde Tellkamp schon einmal präventiv gegen eine Cancellation verteidigt, die gar nicht stattgefunden hat. Schon im Januar konnte man wiederum in der Welt den unsterblichen Satz lesen: "Und heute soll ein Autor wie Uwe Tellkamp ausgegrenzt werden, der keineswegs rechte Terroristen so verteidigt wie Böll linke?"
Es ist zu vermuten, dass sich mit der Publikation von Der Schlaf in den Uhren ein ähnlich anstrengendes Spektakel vollziehen wird, wie um die Autorin Monika Maron, die im Oktober von S. Fischer "rausgeworfen" wurde, um direkt danach mit großem Getöse von Hoffmann und Campe "gerettet" zu werden - ein Vorgang, der vor allem darauf verweist, dass Autor*innen der Gegenwart langsam gelernt haben, ein abfallendes Interesse an den Werken durch politischen Skandal zu kompensieren. Je weniger sich die Menschen für die spröden literarischen Entwürfe dieser sehr deutsche Tradition des Romanschreibens begeistern, desto mehr setzt man auf das viel konsumierbarere Drama der öffentlichen Kontroverse. Manchmal wünscht man sich, es würden spannendere Bücher geschrieben; dann könnten auch die Literaturskandale weniger spannend sein.
Jedenfalls kann man sich schon jetzt ausmalen, wie die 'Debatte' um Tellkamps 'Mammutroman' ablaufen wird. Zunächst wird dieser angeblich ausgestoßene Autor mit langen, tiefschürfenden Rezensionen überschüttet werden, die nicht umhinkommen werden, auch die politischen Probleme des Buches herauszuarbeiten. Die Kritik am Roman wird dann Gegenkritik erzeugen, leidenschaftliche Plädoyers für die Freiheit der Kunst und mahnende Hinweise darauf, dass man einen Autor wie Tellkamp "ertragen" müsse. Es wird sicher auch Stimmen geben, die sich als radikale Ästhetiker inszenieren und darauf hinweisen, dass das politisch natürlich alles problematisch sei, aber sehr gut geschrieben etc. Das Umfeld, aus dem auch der Tweet des BuchHauses Loschwitz kommt, wird jede Wortmeldung aus den etablierten Medien gierig zur Kenntnis nehmen, während gleichzeitig jeder kritische Zwölftausendzeichentext im Feuilleton als Indikator der Nichtachtung eines großen Autors gewertet werden wird. Wenn die Sache am Ende richtig eskaliert, gibt es vielleicht sogar offene Briefe, die dann wiederum Berichterstattung erfordern.
Diese Dystopie folgt einer aufmerksamkeitsökonomischen Logik, die man in den letzten Jahren immer wieder beobachten konnte, am schlimmsten vielleicht bei dem Pseudo-Ereignis um die angebliche Cancellation Lisa Eckarts. Man kann in diesem Zusammenhang noch so oft darauf hinweisen, dass die Menschen, denen dieses Schlimme widerfährt, danach auf wundersame Weise immer noch erfolgreicher werden - so lange man die Diskursereignisse nicht vor allem als extrem effektive mediale Erzählungen analysiert, wird sich an der Akkumulation dieser spezifischen Form von Debatte nichts ändern.
Denn über diese Form von Skandal versichert sich der Literaturbetrieb seiner eigenen Relevanz. Wo gestritten wird, da muss etwas wichtig sein, sonst würden Menschen nicht die Energie investieren, die für eine zünftige Kontroverse nötig ist. Die meisten Literaturskandale beruhen auf einer uneingestandenen Komplizenschaft aller Beteiligten, die am Ende Aufmerksamkeit und Bedeutsamkeit erzeugt. Das heißt nicht, dass eine essayistisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen nicht wichtig und angemessen wäre; aber der kommunikative Zirkus der Debatte führt in diesen Fällen vor allem dazu, dass bekannte Argumente ausgetauscht werden. Es handelt sich um feuilletonistisches Theaterfechten.
Es wäre allerdings auch möglich, diese aufmerksamkeitsökonomische Logik zu durchbrechen. Dazu müsste man nicht viel tun, eigentlich vor allem gar nichts. Indem man sich die Lektüre der 900 Seiten erspart, spart man auch den Platz und die Aufmerksamkeit, die vielleicht auf andere Bücher und andere Debatten verwendet werden könnte. Das entspricht einer 'Ethik des Nichtlesens', für die ich 2019 in diesem Text plädiert habe. Feuilletonistische Energie ist eine finite Ressource. Man kann nur einem Bruchteil der Phänomene Sichtbarkeit verschaffen. Sollte man da nicht über die Verteilungsmechanismen nachdenken, nach denen diese Sichtbarkeit vergeben wird? Indem man die scheinbar unvermeidliche Debatte um den neuen Tellkamp einfach ausfallen ließe, würde man zum einen aufmerksamkeitsökonomische Disziplin zeigen, zum anderen Raum schaffen für neue, bessere, originellere Streitereien.
Groteskes aus der Wunderwelt der Bücher
Ein guter Webcomic
Die guten Texte
Stellt sich raus, die App Telegram wird betrieben wie ein Kult und offenbar ist es mit der Verschlüsselung der Nachrichten auch nicht so weit her, wie das Marketing vermittelt hatte. Dieser lange Essay über die finanziellen und institutionellen Hintergründe ist in jedem Fall ein interessantes Lehrstück über die Art und Weise, wie technische Produkte entstehen und sich verbreiten. Ein Lehrstück darüber, wie schlecht Reformwille und Autokratie zusammenpasst, findet sich wiederum in diesem Porträt über den de facto Herrscher Saudi Arabiens Mohammed bin Salman. Der Text hat auch eine interessante Debatte nach sich gezogen, ob man auf diese Art mit Autokraten reden sollte. Schließlich: Über einen echten literarischen Fund berichtet Christina Dongowski in ihrem Artikel über Der Geldverleiher, einen spannenden englischen Roman des 19. Jahrhunderts, den der junge Theodor Fontane übersetzt hatte.
Und: ein Song.