Feuilleton und Schadenfreude
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt. Wer sich für Streitereien und Debatten über Bücher, Filme, Musik, Serien und viele andere Dinge, die uns entzweien, interessiert, der ist hier an der richtigen Stelle.
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Warum lesen wir Verrisse?
Der Verriss ist eine zwielichtige journalistische Gattung, nicht nur für diejenigen, die ihn schreiben, sondern auch für diejenigen, die ihn lesen. Warum sollte man sich daran ergötzen, wenn einer Autor*in öffentlich ihr ästhetisches Versagen aufs Brot geschmiert wird. Jeder weiß doch eigentlich, wie viel emotionale und professionelle Energie es kostet, etwas zu schreiben, und dann kommt jemand anderes und schlägt darauf ein und ein schadenfrohes Publikum schaut zu und erfreut sich daran. Es war deshalb gar nicht so einfach, im Podcast der Lesereihe "Kabeljau und Dorsch", wo ich als Gast über die Frage "Braucht der Verriss ein Combeback?" diskutiert habe, darüber zu sprechen, warum ich negative Kritik schätze - als Autor und als Leser. Was uns zu dem Thema dann eingefallen ist, kann man hier nachhören.
Tatsächlich lese ich gerne schlechte Kritiken und frage mich schon länger woran das liegt. Weil es sich um ein zwielichtiges Vergnügen handelt, ist der Genuss am Verriss meinem Empfinden nach eher untertheoretisiert. Dabei handelt es sich um eine der feuilletonistischen Gattungen, die zuverlässig am meisten Aufmerksamkeit erzeugt. Roger Ebert, einer der einflussreichsten Filmkritiker hat seine Verrisse sogar als eigene Bücher veröffentlicht, unter Titeln wie Your Movie Sucks oder I Hated Hated Hated This Movie. Es ist ein Zeichen dafür, wie schambesetzt das Thema ist, dass es mir halb schwer fällt zuzugeben, dass diese Bücher lange Zeit meine Abendlektüre waren. Irgendwann fragt man sich dann schon, ob man vielleicht ein besonders schadenfroher Mensch ist. Dann wiederum bin ich - das zeigt der Erfolg der Textsorte - nicht der einzige, dem dieses Genre gut gefällt.
Ein Ansatz um diesen Erfolg zu erklären, wäre, dass das Urteilen, das wertende Sichverhalten zu einem Kunstwerk, einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Aspekt ästhetischer Kommunikation ist. Bevor Kunst zur Analyse einlädt, hat sie schon lange eine Einschätzung herausgefordert. Dass dieses Urteil oft persönlich ist, Ausdruck einer emotionalen Investition, macht die Relevanz von Kunst aus. Im besten Fall handelt es sich um etwas, für das man brennt und entsprechend erklärt sich die Freude über einen Verriss vielleicht aus dem Zorn heraus, den man empfindet, wenn etwas, was einem wirklich wichtig ist, auf eine frivole oder nachlässige Art und Weise behandelt wird.
Gleichzeitig, und das macht die weniger sympathischen Elemente der Abwertung deutlich, geht es eben oft auch um soziale Abgrenzung. Geschmack als Teil des Habitus beruht ja darauf, dass jemand anderes einen schlechteren Geschmack hat. Und so gibt es eine spezifische Form der negativen Kritik, die darin aufgeht, auf Menschen herabzuschauen, die das, was man schlecht findet, gut finden. Gestern wurde in der POP-Zeitschrift ein sehr lesenswerter Text über die Modemarke Camp David veröffentlicht, der das geschmacksoziologische Konfliktpotential, das in so gut wie all unseren ästhetischen Entscheidungen steckt, sehr gut illustriert. Dieser Mechanismus ist wahrscheinlich unhintergehbar - eine ästhetische Kritik ganz ohne Distinktion (soziale Abgrenzung) gibt es nicht, aber man kann zumindest darauf achten, dass es nicht nur so klingt, als würde man sich darüber lustig machen, dass jemand nicht die richtigen Schuhe trägt.
Ein weiterer Grund, warum das Lesen von schlechten Kritiken lohnenswert sein kann, ist, dass sie im besten Fall sehr genau (und genauer als in lobenden Texten) ihr Urteil begründen müssen. Ich habe aus Verrissen oft sehr viel über die Struktur von Kunstwerken und ihre Funktionsweise gelernt. Ein Beispiel ist etwa dieser allumfassende und extrem belesene Großverriss des Gesamtwerkes von Paul Auster durch James Wood. Hier wird mit philologischer Akribie bewiesen, warum Wood Auster für keinen guten Autor hält. Ein anderes Beispiel ist dieses Essay von Emily Nussbaum über True Detective, eine Serie, auf deren Pseudo-Tiefsinnigkeit ich - wie viele andere - komplett hereingefallen war. Erst der Text hat meinen Blick auf die Serie verändert; und das gelingt nur, weil er so genau und nah an der Quelle begründet war.
Für die Urheber*innen des Kunstwerks ist es natürlich egal, ob die Menschen etwas bei der Lektüre einer schlechten Kritik lernen. Aus eigener Erfahrung weiß ich: So etwas ist immer und uneingeschränkt unangenehm. Es gibt dafür auch keine gute Lösung. Wahrscheinlich handelt es sich um eines dieser kulturellen Konfliktpotentiale, das sich einfach nicht auflösen lässt. Zumindest finde ich es seltsam, wenn man den Autor*innen dann zuruft, sie müssten das einfach aushalten (müssen sie ja eh). Es unterstellt eine seltsame Vorstellung des professionellen Ethos, wenn man erwartet, dass sich jemand nicht furchtbar darüber ärgert, wenn z.B. sein Buch schlecht besprochen wird. Darüber, dass Autor*innen die berechtigte Verletzung über eine negative Kritik inzwischen oft im Internet ausleben und dort auch ihr Netzwerk gegen die Kritiker*in mobilisieren, habe ich dieses Jahr einen Aufsatz geschrieben. Erlebt habe ich es übrigens auch schon. Ob es eine gute Idee ist, weiß ich nicht.
Das haben selbst die Poeten nicht verdient


Wie uns die Woche tyrannisiert
In einem spannenden Essay schreibt Jill Lepore über die Geschichte der Woche als zeitstrukturierendes Konstrukt, das in besonderer Weise zeigt, wie kulturell gemacht unser Zeitgefühl eigentlich ist: "Die Sonne macht die Tage, die Jahreszeiten und die Jahre, der Mond die Monate, aber die Menschen haben die Wochen erfunden". Zeit und wie wir sie wahrnehmen, ist nie nur natürlich oder zwangsläufig, sondern beruht auf historischen Prozessen der Gewöhnung. Auch die Gegenwart etwa als alltägliche Vorstellung musste irgendwann erst entdeckt und etabliert werden, wie Achim Landwehr in seinem Buch Die Geburt der Gegenwart gezeigt hat. Das gilt noch mehr für die Woche, die sich - so wie wir sie heute kennen - erst im Verlauf der Moderne als Struktur durchgesetzt hat. Prozesse dieser Art sind immer Prozesse der Alltagsgeschichte, wie Lepore in diesem schönen Abschnitt andeutet:
"Die Menschen begannen, sich die Zeit in Form von Wochen vorzustellen. Man konnte fühlen, dass es Montag war. Man konnte riechen, dass es Donnerstag war. Man konnte hören, dass es Mittwoch oder Samstag war, wenn man in der Nähe eines Theaters wohnte, denn an diesen Tagen fanden in den Theatern Matinéen statt."
Die guten Texte
Eine werkumspannende Kritik des Werkes von Édouard Louis, die mit dem Satz beginnt: "Was habe ich mich über diesen Kerl geärgert!" Ein Essay über Popliteratur der Gegenwartwart und ihre politische Transformation. Und wie unsere Freizeitbeschäftigungen immer mehr zu Arbeit werden (so wie dieser Newsletter). Außerdem: ein Song.
Die guten Tweets
[tweet https://twitter.com/laserheilkunde/status/1355196930725441538]