Ethik des Doomscrollings?
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt.
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Eine tyrannische Gegenwart?
Schon seit 2021 gibt es auf Twitter den Doomscrolling Reminder Bot, den ich aber erst jetzt im Kontext des Angriffskrieges, den Vladimir Putin gegen die Ukraine führt, entdeckt habe. Der Bot mahnt in regelmäßigen zeitlichen Abständen, mit dem Doomscrolling aufzuhören. Wikipedia definiert diese Tätigkeit als "das exzessive Konsumieren negativer Nachrichten im Internet." Dabei wird auch gleich auf "gesundheitsschädliche psychophysiologische Folgen", die diesem Konsum nachgesagt werden, hingewiesen. Der Bot zielt auf diesen Aspekt der Psychohygiene ab, indem er mit besorgter Stimme dazu aufruft, auch mal raus aus dem Internet zu gehen und die Leser*in daran erinnert, dass sie Zeit "verdient" hat, sich auszuruhen und zu regenerieren.
Zur Kulturkritik, die den Medienwandel der Digitalisierung begleitet, gehört auch eine kulturelle Panik vor dem neue Aktualitätsregime – eine Panik, die auf der Diagnose beruht, dass wir in einer Zeit der absoluten medialen Beschleunigung, der Unübersichtlichkeit und Überforderung leben. Douglas Rushkoff macht diese Diagnose zum Ausgangspunkt seines Buches Present Shock. When everything happens now, in dem eine Gegenwart des Digitalen beschworen wird, die einen oppressiven Charakter angenommen hat.
Eckhard Schumacher beschreibt in seinem Essay zu Rushkoffs und anderen Gegenwartsanalysen dieser Art, wie der einstige Fortschrittsoptimismus der Kommunikationsindustrie unter einem negativen Vorzeichenwechsel immer mehr als Verfallsgeschichte erzählt wird: „das Unmittelbarkeitspathos der Echtzeitkommunikation, den smartphonegestützten Zustand des always-on, die instantane Verfügbarkeit und permanente Aktualisierbarkeit von allem, an jedem Ort, zu jeder Zeit“ – all diese Aspekte des digitalen Alltags gelten inzwischen als gesellschaftliche und kulturelle Probleme. In diesem Niedergangsnarrativ prägen Unübersichtlichkeit und Beschleunigung die Lebenswirklichkeit vieler Menschen, die in einer undisziplinierten Gegenwärtigkeit vollkommen aufzugehen scheinen.
Diese Gegenwartsdiagnose überträgt sich auch und gerade auf die Massenmedien, die sich durch die Digitalisierung endgültig einer Tyrannei der Aktualität verschrieben hätten. Lothar Müller merkt in seinem Essay „Deadline. Zur Geschichte der Aktualität“ an, „die temporale Aktualität“ habe „die letzte Beschleunigungsstufe erreicht“. Man habe es zu tun mit einem „Ausfransen der Periodizität“. Menschen konsumieren Nachrichten nicht mehr im Rhythmus der Erscheinungsdaten von Medien, etwa einer Tageszeitung, sondern immer und überall. Es gibt keinen Moment mehr gibt, in dem Gegenwart nicht irgendwo konsumiert werden kann.
Das führt zu einem Gefühl der Überforderung, das sich als kulturelle Malaise vermarkten lässt. Bücher, wie Rolf Dobelli Die Kunst des digitalen Lebens. Wie Sie auf News verzichten und die Informationsflut meistern, sind Ausdruck eines Wellness-Diskurses, der als Reaktion auf die always-on Probleme der Digitalisierung entstanden ist. In einem Werbetext zu dem Buch heißt es:
"Wir sind immer bestens informiert und wissen doch so wenig. Warum? Weil wir ständig 'News' konsumieren – kleine Häppchen trivialer Geschichten, schreiende Bilder, aufsehenerregende 'Fakten'. Der Bestsellerautor Rolf Dobelli lebt seit vielen Jahren gänzlich ohne News – und kann die befreiende Wirkung dieser Freiheit aus erster Hand schildern. Machen Sie es wie er: Klinken Sie sich aus. Radikal. Und entdecken Sie die Kunst eines stressfreien digitalen Lebens mit klarerem Denken, wertvolleren Einsichten und weniger Hektik. Sie werden bessere Entscheidungen treffen – für Ihr Privatleben und im Beruf. Und Sie werden auf einmal mehr Zeit haben, die Sie nutzen können für das, was Sie bereichert und Ihnen Freude macht."
Aktualität erscheint hier also nicht mehr als journalistische Tugend, sondern als Laster, das ‚Medienfasten‘, das Innehalten und Warten dagegen erschienen als Antiseptikum gegen die gehetzte Echtzeitberichterstattung. Es geht aus dieser Perspektive darum, mehr, nicht weniger zeitliche Distanz zwischen die Rezipient*in und das Ereignis zu bringen – eine Vorstellung, der etwa auch die ‚Slow Journalism‘ Bewegung folgt, die das Aktualitätsregime der Digitalität als einen Schaden für den Journalismus ansieht.
Die Kritik an der medialen Beschleunigung ist nicht neu und keine Erfindung des Internetzeitalters. Lothar Müller weist darauf hin, dass die Klage, über ein Vielzuschnell und Vielzuviel an Nachrichten, über die Tyrannei der Aktualität, seit Beginn der Zeitungsgeschichte im 17. Jahrhundert eine Rolle spielte. Und schon damals sei die „gastronomische Metaphorik allgegenwärtig“ gewesen: „Man verschlang nun nicht nur im Rhythmus der ‚Messekataloge‘ die neuen Bücher, sondern im schnelleren Rhythmus der periodischen Presse die Neuigkeiten […].“
Achim Landwehr zitiert in seinem Buch Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert den Gelehrten Ahasver Fritsch, der 1676 den Deutschen eine „Zeitungs-Sucht“ unterstellte: „Sie lechzen danach, täglich nach Neuem zu fragen, Neues zu hören, Neues zu erzählen. Und tatsächlich sehen wir, daß Menschen jedes Standes und jeder Stellung an diesem Fehler leiden.“ Sogar in der Kirche würden die Menschen während der heiligen Handlungen auf ihre Zeitungen starren!
Die Zeitungsleser*in erscheint seit Beginn der modernen Mediengeschichte als unbelehrbarer Vielfraß, als unreformierbarer Gegenwartsjunkie, der es nie aktuelle genug sein kann, und die man mit Diäten erziehen muss. Diese gastronomische Metaphorik findet sich nun eben auch in den kulturkritischen Diagnose der digitalen Gegenwart wieder. Im Konzept des ‚Medienfastens‘ im Sinne Dobellis erscheint Aktualität als ein ungesunder Hunger auf der Rezeptionsseite, im Konzept der ‚Slow News‘ verbirgt sich eine Kritik an der ‚Fast Food‘ Produktion von Medien.
Im Zeichen schrecklicher Ereignisses erscheint dieser Wellness-Diskurs, der ein Zuviel an Nachrichten zum Ausgangspunkt einer auf Achtsamkeit und Konzentration ausgelegten Form von Self-Care machen möchte, allerdings auch ambivalent und wird - gerade jetzt wieder - zum Gegenstand heftiger Kritik. Sich einem Zuviel an News entziehen zu wollen, erscheint als angemaßtes Privileg, wenn diese News sich auf Menschen beziehen, für die der Einbruch der Gegenwart eine existentielle Gefahr für Leib und Leben bedeutet. Diese Spannung kommt in einem Tweet zum Ausdruck, der inzwischen über 400.000 favs eingesammelt hat. Man sieht hier eine Frau in einer sehr gepflegten Wohnung der kreativen Oberschicht an einem Schreibtisch stehen. Der Kommentar dazu ist ein fiktives Zitat, das ihr in den Mund gelegt wird: "I’m tired of living through historic events" - "Ich bin es leid, historische Ereignisse zu durchleben"
Was hier aufs Korn genommen wird, ist die angebliche Wehleidigkeit eines Mediendiskurses, der das eigene Leiden an einer tyrannischen Gegenwart inszeniert, während man in der warmen schönen Wohnung an seinem Laptop steht. Der Tweet deutet die ethischen Probleme an, die den Doomscrolling-Diskurs durchwirken: Die Kulturtechnik erscheint ja als etwas Ungesundes, das man möglichst unterlassen sollte. Sonst gäbe es z.B. keinen Bot, der davor warnt. Ist der Begriff "Doomscrolling" also auch nur Ausdruck einer privilegierten Weinerlichkeit, die sich dem Leid anderer Menschen nicht aussetzen will?
Ich bin mir nicht sicher. Denn man kann den Begriff natürlich auch als die Kritik einer frivolen Form des Medienkonsums lesen, die sich auf eine vollkommen unproduktive Art und Weise am Schrecken der Nachrichten berauscht, als eine quasi pornographische Rezeption von Gegenwart, die sich am Ende dadurch legitimiert, dass man sich ausgiebigst informiert hat, und die dabei einen falschen Eindruck von Agency vermittelt. Berit Glanz spricht in ihrem Newsletter von einer "gefühlten Handlungsmacht" des fieberhaften Scrollens: "Man setzt sich bewusst den Informationen aus, weil man dadurch das Gefühl gewinnt zumindest den Nachrichtenstrom kontrollieren zu können."
Ich habe den Eindruck, dass über Doomscrolling und den Mediendiskurs einer tyrannischen Gegenwart in Zukunft noch viel diskutiert werden wird. Wie hängen Medienkonsum und politischer Aktivismus, Rezeption und Praxis, das Sichaussetzen und das Pausemachen miteinander zusammen? Ich finde es momentan ausgesprochen schwer, zu einer Einschätzung zu kommen, und mich würde interessieren, wie die Leser*innen mit diesem Problem umgehen und welche Vorstellungen und Praktiken sie mit dem Begriff verbinden.
Freundlicher Hinweis auf einen neuen Roman
Meine Kollegin von 54books und gute Freundin Berit Glanz (oben hatte ich sie bereits zitiert) hat ihren zweiten Roman veröffentlicht, den ich an dieser Stelle sehr empfehlen möchte. Es ist ein Buch, das sich mit digitaler Überwachung, prekärer Clickwork und Sorgearbeit beschäftigt, ein digitaler Thriller zwischen Deutschland und den USA. Wer mehr erfahren möchte, kann das hier, hier und hier tun.
Die guten Texte (Doreen St. Félix)
Doreen St. Félix gehört schon länger zu meinen Lieblingskulturjournalist*innen. Sie ist TV-Kritikerin beim New Yorker und ihre Artikel sind geprägt durch eine Perspektive, die ästhetische und politische Fragen miteinander verbindet. Die Texte sind dabei unverdruckst intellektuell, immer elegant und mit einer gewissen spöttischen Distanz geschrieben. Der erste Text, den von ihr gelesen habe, war die skeptische Analyse des Tiger King Phänomens. Seitdem versuche ich, keinen Artikel zu verpassen. St. Félix hat unter anderem über Serien in der Pandemie geschrieben, über I may destroy you, über Harry und Meghans Auftritt bei Ophra Winfrey und über Ted Lasso. Zuletzt habe ich Ihre Kritiken zu Pam & Tommy und We need to talk about Bill Cosby mit großem Gewinn gelesen.
Und: ein Song.