Emotionaler Trickbetrug
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt. Wer sich für Streitereien und Debatten über Bücher, Filme, Musik, Serien und viele andere Dinge, die uns entzweien, interessiert, der ist hier an der richtigen Stelle.
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Narrativer Striptease
Der Roman A Little Life von Hanya Yanagihara war 2015 ein Beststeller, der mit Preisen ausgezeichnet und teilweise hymnisch besprochen wurde. Eine der abweichenden Stimmen war der Autor Daniel Mendelsohn, der in einer Rezension im New York Review of Books kritisierte, der Roman sei sehr schlecht geschrieben ("The writing in this book is often atrocious, oscillating between the incoherently ungrammatical") und habe die narrative Struktur eines "Striptease". Insbesondere die schrecklichen Leiden, die die Figur Jude über den Verlauf von 700 Seiten ertragen muss - eine endlose Ansammlung von Demütigungen und Gewalttaten – waren Gegenstand seiner Polemik.
Diese Leiden werden in Rückblenden erzählt, die immer neue Schichten der traumatischen Vergangenheit der Figur bloßlegen - daher das Bild des "Striptease". Mendelsohn, der sich vor allem auch an der Art und Weise störte, wie Homosexualität in diesem Roman dargestellt wird, vermutete, dass der Erfolg von A Little Life sich dadurch erklären lässt, dass ein auf Viktimisierung und einen Mangel an emotionaler Resilienz ausgerichteter Zeitgeist von Yanagiharas melodramatischer Opfernarration manipuliert ("duped") wurde.
Gegen diese Kritik richtete sich ein Leserbrief des Verlegers von A Little Life, der empört darauf hinwies, dass emotionale Manipulation doch wohl eines der Hauptgeschäfte von Literatur sein müssen. Habe nicht schon Nabokov immer wieder angedeutet, dass Kunst eine elaborierte Form von emotionalem Trickbetrug (ein "con game") sei? Der Vorwurf der Manipulation klinge absurd, vor dem Hintergrund, dass der Roman eine konstitutiv manipulative Gattung sei. Mendelsohn antwortete darauf, mit dem Wort "duped" habe er andeuten wollen, "dass Yanagiharas Anhäufung von Traumata letztlich eine plumpe und unkünstlerische Art ist, dem Leser Gefühle abzuringen." Sie habe die Effekte, die das Buch erzielt - die Tränen, die der Verleger nun als Zeichen der Wirksamkeit vorschieben würde - auf eine "unehrliche" Art erreicht.
Ich wurde an diese Auseinandersetzung erinnert, weil gerade ein neues Buch von Yanagihara (To Paradise) erschienen ist, und wieder ähnliche Fragen diskutiert werden. Mendelsohns Kritik beruht auf der Vorstellung, dass es auch eine ethische Frage sei, auf welche Art menschliche Leiden ästhetisiert werden. Die schiere Akkumulation von Horror und Traumata erzeugt zwar eine Wirkung ("Tränen"). Diese Wirkung ist allerdings erschwindelt, weil sie den Horror nicht künstlerisch kompensiert, sondern durch die schiere Masse an schrecklichen Erlebnissen die Leser*innen emotional mürbe zu machen versucht.
In einem Essay über den neuen Roman To Paradise schreibt Andrea Long Chu darüber, wie sich Yanagiharas Faszination mit Leidensgeschichten auch auf der auktorialen Ebene auf eine ziemlich dunkel Art manifestieren würde. Der Autorin gehe es nämlich vor allem darum, "sich als eine sinistre Pflegerin in die Geschichte einzuschreiben, die ihre Figuren vergiftet, um sie dann liebevoll wieder gesund zu pflegen." Damit ist ein grundsätzliches Problem angesprochen, das das Verhältnis einer Autor*in und ihren Figuren betrifft, nämlich, dass sich in der Art, wie die Schöpfer*in ihre Geschöpfe behandelt, auch die Qualität einer Erzählung bestimmen kann.
Was den bereits erwähnten Nabokov trotz aller ästhetischen Brillanz bisweilen unerträglich zu lesen macht, ist der Eindruck, dass er seine Figuren auslacht, verachtet, regelrecht mobbt. In seinem Roman Pnin wird diese Tendenz sogar zum Teil der Geschichte, wenn die geschundene Figur dem spöttischen Erzähler am Ende abhanden kommt. Bei Yanagihara - so zumindest die Unterstellung Andrea Long Chus - verhält es sich umgekehrt: Die Figuren werden in den sentimentalen Folterkeller einer übergriffigen Sympathie gesperrt: "Es handelt sich nicht um Sadismus, sondern eher um Stellvertreter-Münchhausen-Syndrom." Auch in diesem Fall wird darauf hingewiesen, dass die Konzentration auf schwule Männer ein Problem sei - eine "touristische" Form der Liebe.
Generische Motelzimmer statt blutige Kammern
Yanagiharas A Little Life wurde in einem vielbeachteten Essay von Parul Sehgal gerade als Beispiel für den Siegeszug des „Trauma Plot“ in der modernen Literatur angeführt. Diese narrative Struktur charakterisiert die Figuren vor allem über vergangene Traumata, die im Verlauf der Handlung in Rückblenden erzählt werden. Sehgal führt diese Erzählweise auf das modernistische Forderung zurück, dass die Dramen der Literatur sich im Innenleben einer Figur abspielen sollen.
Virginia Woolfes bekanntes Essay Mr. Bennett and Mrs. Brown von 1924 wird als Beispiel für diese Programmatik genannt. Woolfe forderte darin, dass Literatur in der Lage sein muss, die ältere Dame, die der Autorin im Zug gegenübersitzt, mit einem interessanten Innenleben zu versorgen. Dieses Innenleben werde heute, schreibt Sehgal, vor allem dadurch erzeugt, dass man die Figuren mit einer spannenden Leidenserfahrung in der Vergangenheit ausstattet, die ihren Charakter in der Gegenwart plausibel machen kann. Gleichzeitig dient diese Struktur dazu, den Plot voranzutreiben, der darauf abzielt, das Trauma nach und nach offen zu legen. Ein Instrument der Spannungserzeugung, das in gewisser Hinsicht dem Whodunit der klassischen Krimihandlung gleicht und ähnlich effektiv erscheint.
Sehgal hat die Geduld für diese Art von Plot verloren: „Die Beschwörung eines Traumas verspricht den Zugang zu einer gut bewachten blutigen Kammer, doch zunehmend haben wir das Gefühl, ein generisches Motelzimmer zu betreten, das alle Anzeichen einer starken Fluktuation aufweist.“ Selbst die konventionellsten Formen populärer Unterhaltung kämen inzwischen nicht mehr ohne den Trauma Plot aus: „Wir stellen uns auf weitere Episoden mit Marvel-Superhelden ein, die über Vaterkomplexe grübeln, auf weitere Sagen über rätselhafte, schwer verletzte literarische Heldinnen.“ Für Sehgal stellt der Trauma Plot in seiner jetzigen Allgegenwärtigkeit vor allem eine Form der anthropologischen Vereinfachung dar, die – in ihrem Bedürfnis, alle Aspekte einer Persönlichkeit auszuleuchten – mit großen ästhetischen Kosten verbunden ist:
„Der Trauma-Plot verflacht, verzerrt, reduziert den Charakter auf ein Symptom und belehrt und beharrt auf seiner moralischen Autorität. Der Trost seiner Einfachheit hat einen nicht geringen Preis. Sie lässt außer Acht, was wir wissen, und verlangt, dass wir es auch vergessen - die Freuden des Nichtwissens, die ungeschriebenen Dimensionen des Leidens, die seltsamen Winkel der Persönlichkeit […].“
Traumatisiert durch Dalmatiner
Bei der Lektüre von Sehgals Essay musste ich daran denken, mit wie viel Missmut ich vor einiger Zeit den neuen James Bond-Film (No Time to Die) angeschaut habe, der nicht nur ziemlich langweilig ist, sondern sich auch komplett im Aufarbeiten der inneren Dämonen eines Protagonisten verliert, der sich sauertöpfisch und leidend durch die Handlung schießt und prügelt. In diesem Fall stellt sich die Frage, ob diese Art der lustlosen Bewältigungscharakterisierung nicht auch das Konzept Trauma auf eine ungute Art verwässert und instrumentalisiert. Leiderfahrungen erscheinen dann nur noch als das narrative Salz in einer dünnen Thriller-Suppe – eine ritualisierte und faule Art, aus einer flachen Figur einen runden Charakter zu machen.
Das läuft inzwischen auf absolut absurde Ideen hinaus, wie etwa, der campy Schurkenfigur Cruella de Vil aus dem Disney-Klassiker One Hundred and One Dalmatians eine Ursprungsgeschichte anzudichten, die ihren Hass auf Hunde dadurch erklärt, dass ihre Mutter von Dalmatinern umgebracht wurde. Solche Ideen entstehen im Kontext einer erschöpften Form des populären Erzählens, die die Errungenschaften des psychologischen Realismus nutzt, um für uninspirierte Erzählungen die Dignität hochkultureller Tiefe zu erschwindeln. Jonas Lübkert hat in seinem Newsletter vor einer Woche darüber geschrieben, wie die immer stärker eskalierende Düsternis von Superhelden-Erzählungen auch damit zusammenhängt, dass die Rezipient*innen in ein Alter gekommen sind, in dem sie unter Beweis stellen müssen, das ihre Kunstform die höheren Weihen echter Kunst verdient: „Die Achtziger und Neunziger wurden geprägt von langsam älter werdenden Männern, die fanden, Superheld*innen müssten jetzt erwachsen werden. Und erwachsen heißt in diesem Fall düster und brutal.“
Die guten Texte
Wie viele Folgen einer TV-Serie muss man durchhalten, bevor man sie abbrechen darf? Dieser Artikel hat die Antwort. Zudem: Es gibt eine neue Macbeth-Verfilmung von Joel Cohen, die hier als "Shakespeare Noir" besprochen wird. Und hier rezensiert Tim Parks ein neues Buch über das historische Duellwesen.
Außerdem: ein Song.