Medienkonsum als Verderben
Die Hoffnungen und Ängste, die in einer Kultur an Medien geknüpft werden, lassen sich an den Begriffen ablesen, die im Alltag verwendet werden, um einen bestimmten Medienkonsum zu beschreiben. Wenn etwa die Rede davon ist, dass ein Roman ‘verschlungen’ oder Fernsehen ‘geglotzt’ wird, dann transportieren diese Ausdrücke eine vage, aber wirkungsvolle Rezeptionstheorie. Das Verschlingen von Büchern schließt historisch an die Lesesucht-Debatte im ausgehenden 18. Jahrhundert an, eine kulturkritische Diskussion über die angeblich grassierende rauschhafte Lektüre von Romanen. Das Fernsehglotzen dagegen beschreibt eine Rezeptionsform, die mit der kulturkritischen Paranoia verknüpft wird, das Medium könne seine Nutzer:innen zu passiven Verbrauchern machen. In der Gegenwart wiederum kursieren Begriffe wie ‘Binge Watching’, die schnelle Rezeption mehrerer Folgen einer Serie hintereinander. Auch diese Metapher bedient sich aus dem Bildfeld des ungesunden Konsums – ›binge‹ beschreibt im Englischen vor allem den unkontrollierten Genuss von Alkohol oder Essen.
Bezeichnungen wie ‘Verschlingen’, ‘Glotzen’ oder ‘Bingen’ dramatisieren mediengeschichtliche Umbrüche wie den Aufstieg des Romans, den Siegeszug des Fernsehens oder die Etablierung von Video-on-Demand. Das Bild, das die Alltagstheorien solcher Begriffe von den jeweiligen Medien zeichnen, wirkt zunächst vor allem bedrohlich, dient allerdings oft auch dazu, ihre Macht und Bedeutung aufzuwerten. In den Bedrohungsszenarien, die sich vor allem zu Beginn einer Innovationsgeschichte um das neue Medium anlagern, steckt bereits die Erzählung seiner ungeheuren Wirkung. Im Fall des Romans erscheint es heute fast wieder als Aspekt einer Verfallsgeschichte, dass Menschen nicht mehr so süchtig sind wie früher.
Ein Begriff, der sich in den letzten Jahren etabliert hat und der die Mediennutzerïnnen als suchtgefährdete Menschen beschreibt, die sich einem gefährlichen Verhalten hingeben, ist ›Doomscrolling‹, was so viel bedeutet wie die unmäßige digitale Rezeption schlechter Nachrichten… Hier kann man den Essay, der Ende 2022 in der POP-Zeitschrift erschienen ist, weiterlesen.
Zerstört K.I. die Hausarbeit?
Dieser Artikel im “New Yorker” trägt eine reißerische Überschrift, deren Energie in dem nachdenklichen und tief recherchierten Text aber wieder kassiert wird. Der Autor lehrt selbst an einer Universität und hat sich mit Studierenden über die Art und Weise unterhalten, wie sie K.I. verwenden. Hier werden keine harten Thesen oder Patentrezepte angeboten. Ich denke, jeder, der in seinem Alltag mit dem Thema zu tun hat, sollte diesen Essay lesen. Ein Satz aus dem Text ist mir in besonderer Erinnerung geblieben: “None of the students I spoke with seemed lazy or passive. Alex and Eugene, the N.Y.U. students, worked hard—but part of their effort went to editing out anything in their college experiences that felt extraneous. They were radically resourceful.”
Die zu gute Geschichte
In der englischsprachigen Welt erschüttert ein neuer Sachbuchskandal das literarische Leben. Der Megabestseller “The Salt Path”, der gerade auch hochkarätig verfilmt wurde, wurde als teilweise Fälschung enttarnt. Es sieht ganz so aus, als wäre die Autorin, die davon erzählt, wie sie und ihr schwerkranker Mann von einem Gauner um Haus und Hof gebracht, eine Reise durch England machen mussten, selbst eine ziemliche Gaunerin ist. Die Geschichte kann man hier nachlesen (danke an Magda Birkmann für den Hinweis). Faktualität als Status des Erzählens erweist sich in solchen Skandalen als fragiler Status. Je besser die Geschichte ist, je mehr sie die emotionalen und politischen Bedürfnisse ihrer Leser:innen befriedigt, desto größer ist die Gefahr, dass beim Erzählen nachgeholfen wurde. Fiktionalität als Geltungsanspruch würde das Erzählen vom Vorwurf der Fälschung entlasten - aber dann müsste man auf die Dignität einer realen Geschichte verzichten.
In eigener Sache
Wer am Mittwoch (9.7.) in Hamburg ist, sollte ins Literaturhaus kommen, wo Nicole Seifert, Till Raether und ich über mein Buch “Wut und Wertung” sprechen. Tickets gibt es hier. Das Buch kann überall gekauft werden, am besten aber nach wie vor in der Autorenbuchhandlung der Autorenwelt. Meinen Essay zur Wertherrschaft und K.I. im Merkur kann man hier lesen; meinen Aufsatz zur Konflikttheorie und Konfliktgeschichte der Literatur hier (Wer keinen Zugang hat, kann mir gerne schreiben).