Die speckige Materialität der Kunst
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt. Wer sich für Streitereien und Debatten über Bücher, Filme, Musik, Serien und viele andere Dinge, die uns entzweien, interessiert, der ist hier an der richtigen Stelle.
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Wer herrscht über das Werk?
Letzte Woche habe ich hier über den Skandal um Joe Rogans Podcast geschrieben. Es ging um die Schwierigkeiten, in die Spotify sich gebracht hat, als man dort die Entscheidung traf, 100 Millionen Dollar des Geldes, das die Musiker auf der Plattform für sie verdient haben, einem umstrittenen Dude mit großer Reichweite zu geben. Im Kontext dieser Kontroverse wurde inzwischen die Debatte über Kunst, Geld und Macht in der Gegenwart ausgeweitet.
Ich musste in diesem Zusammenhang an die Auseinandersetzung zwischen Adele und Spotify aus dem letzten Jahr denken - ein Ereignis, das zeigt, wie kulturellen Machtkämpfe in der Plattformökonomie heute ausgetragen werden. Adele hatte im November 2021 bekannt gegeben, dass die Plattform die automatische Shuffel-Funktion, die die Songs eines Albums oder einer Playlist in einer zufällig Reinfolge abspielt, auf ihre Initiative hin abgeschaltet habe.
"Das war der einzige Wunsch, den ich in unserer sich ständig verändernden Branche hatte! Wir machen unsere Alben nicht ohne Grund mit so viel Sorgfalt und Arbeit, was die Tracklist angeht. Unsere Kunst erzählt eine Geschichte und unsere Geschichten sollten so gehört werden, wie wir es beabsichtigen. Vielen Dank an Spotify fürs Zuhören."
Es handelt sich um einen Akt der Werkpolitik. Eine Künstlerin greift in die Rezeptionsmechanismen ihrer Kunst ein, um die Art und Weise zu steuern, wie diese Kunst konsumiert wird. Adeles Forderung steht im Kontext der Debatte darüber, ob das Streaming von Musik eine bestimmte Form der etablierten Funktionsweise von Pop-Musik zerstört, nämlich das Album. Die technischen Innovationen der letzten Jahrzehnte haben bange Fragen hervorgebracht: Vernachlässigen Menschen, die nicht mehr an die technischen Vorgabe eines Tonträgers gebunden sind die elaborierte narrative Struktur eines Albums? Werden einzelne Songs aus dem Werkganzen herausgelöst und dadurch die Vision der Künstler*in zerstört?
Das sind Fragen, die in der langen Tradition von Ängsten stehen, die den Medienwandel der Kunst immer begleitet haben. Auch in diesem Fall geht es um die Werkherrschaft, ein Begriff, den der Literaturwissenschaftler Heinrich Bosse im wissenschaftlichen Diskurs etabliert hat. Bei Bosse geht es noch darum, wie sich die moderne Autorschaft durch die Innovationen des Urheberrechts im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts ausbilden konnte. Aber die grundsätzlichen Probleme bleiben bis in die Gegenwart virulent und haben sich in gewisser Weise durch die Digitalisierung wieder verschärft. Wer hat die Herrschaft über das Werk? Wer kontrolliert seine Gestalt, wer verdient daran und wer darf entscheiden, wie es richtig (und falsch) rezipiert wird?
Spotify reagierte auf Adeles Forderung mit großer Unterwürfigkeit. Die Shuffel-Funktion wurde entfernt und der Twitter-Account des Unternehmens inszenierte diesen Akt als Zeichen der Hochschätzung, die aus der Bewunderung für die Künstlerin motiviert sei.
Der Fall zeigt, dass Werkpolitik ein Privileg ist, das mit Macht zu tun hat. Nicht allen steht diese Art von Einfluss zu Gebote, die dazu führen kann, dass eine Plattform wie Spotify ihr ganzes System umstellt. Werkherrschaft muss durch Reichweite und finanziellen Erfolg erkauft werden.
In den Ohren von Künstler*innen, die weniger erfolgreich als Adele sind - und das sind die meisten - muss die Tatsache, dass die Entfernung der Shuffel-Funktion der einzige Wunsch zu sein scheint, den die Sängerin an die Branche gerade hat, allerdings auch ziemlich höhnisch klingen. Inzwischen hat der Streit um Joe Rogan und seinen Podcast noch einmal die strukturelle Debatte um die ungeheure Verteilungsungerechtigkeit der Plattform-Ökonomie angeheizt. Auf Pitchfork wurde angemahnt, die Debatte um Rogan sei die falsche Debatte. Eigentlich müsste es darum gehen, dass die Künstler*innen auf Spotify nicht richtig entlohnt werden. Auf diesen Aspekt sollte sich die politische Solidarität der erfolgreichen Künstler*innen beziehen: "Selbst eine einfache öffentliche Erklärung zur Unterstützung höherer Zahlungen könnte zu diesem Zeitpunkt eine große Wirkung entfalten."
Ich finde es interessant, an dieser Stelle kurz darüber nachzudenken, warum eine ethisch-politische Debatte darüber, welche Inhalte auf einem Streaming-Dienst auftauchen dürfen und welche nicht, eine so viel größere Energie entwickeln, als die lange bekannten strukturellen Probleme der Verteilungsgerechtigkeit. Das hat wie immer in diesen Fällen natürlich mit dem sehr unterschiedlichen narrativen Potential der beiden Probleme zu tun. Rogan vs. Young - das ist ein spannender Kampf mit echten Figuren; Musiker können von Bruchteilen eines Cents pro abgespieltem Song nicht leben - das ist keine kohärente Erzählung mit unmittelbarem Identifikations- und Empörungspotential.
Allerdings kommt noch hinzu, dass es relativ einfach ist, sich in der Debatte um Rogan zu positionieren: entweder man ist gegen seinen Podcast und positioniert sich dadurch gegen Impfskepsis etc. oder man ist für ihn und positioniert sich für Meinungsfreiheit etc. Im Fall der ökonomischen Probleme, die durch Spotify verkörpert werden, sind am Ende allerdings die Schurken, von denen man sich distanzieren müsste, die User*innen selbst, also wir. Denn die Strukturen, unter denen die Künstler*innen leiden, werden von einer Kultur der Rezeption mitgetragen, die für die Konsument*innen ausgesprochen angenehm ist.
Es ist an dieser Stelle vielleicht ein seltsames Geständnis, aber als User, als Musikhörer, als Rezipient liebe ich Streamingdienste. Niemals zuvor war es so einfach und günstig, Musik zu hören. Bei Spotify bekommt man für wenig Geld Zugang zu einem riesigen Katalog, den man komprimiert überall hin mitnehmen kann. Und die Kultur (mich eingeschlossen) scheint damit im Großen und Ganzen ok zu sein. Es ist der gleiche Mechanismus, der auch zu den Hochzeiten des Filesharing zu beobachten war: Sobald es für eine Gesellschaft einfach möglich wird, für Kunst nicht zu bezahlen, hört man damit auf.
Gerade ist im Merkur ein Essay von mir erschienen, der ein paar Gedanken über den Zusammenhang von Geld und Kunst entwickelt. Darin geht es auch darum, dass diese Probleme nicht neu sind, sondern als ständiges Grundrauschen die gesamte moderne Kulturgeschichte begleiten. Goethe etwa war vom ersten Verleger seines Romans Die Leiden des jungen Werthers dermaßen übers Ohr gehauen worden, dass er zeitlebens ein feindseliges Verhältnis zu Verlegern pflegte. Diese Feindseligkeit ist repräsentativ für eine konfliktreiche Beziehung, die im Verlauf der modernen Literaturgeschichte von Beschwerden über zu geringe Honorare, unerlaubte Nachdrucke, zu wenig Marketing, zu viele Druckfehler etc. geprägt ist. Die kulturgeschichtliche Schurkengalerie wurde mit der Zeit durch gierige Kunsthändler, Musikproduzenten, Studiobosse, Games Publisher oder Betreiber digitaler Plattformen erweitert. Es verdient offenbar immer jemand Geld mit der Kunst, aber nie ist es die Künstler*in.
Auch Goethe und seine Zeitgenossen hatten Probleme mit zahllosen Raubdrucken und das moderne Urheberrecht war eine Antwort darauf. Genau darum geht es eben auch in Heinrich Bosses Geschichte der Werkherrschaft. Was diese Geschichte - und in dieser Hinsicht ist die Debatte um Spotify nicht neu - zeigt, ist, dass moderne Gesellschaften es einfach immer noch nicht geschafft haben, Strukturen und eine Kultur zu schaffen, die dafür sorgt, dass Menschen von ihrer Kunst leben können. Das mag seltsam erscheinen, vor dem Hintergrund des hohe Prestiges, das Kunst in diesen Gesellschaften besitzt - aber es ist gerade dieses Prestige, das es so schwer macht, Kunst als Ware oder Dienstleistung, die bezahlt werden muss, zu etablieren. (Wen diese Mechanismen interessieren, dem empfehle ich das Buch Schreiben: Eine Soziologie literarischer Arbeit von Carolin Amlinger, das gerade bei Suhrkamp erschienen ist.)
Platten schnüffeln bringt auch nichts
Ein Problem dieser Debatte ist, dass sie eine starke Tendenz hat, in eitles kulturkritisches Geschimpfe auszuarten. Im Fall der Plattformökonomie und Streaming-Dienste geht das oft in die Richtung, die offensichtlichen technischen Vorteile dieser Art von Rezeption abzuwerten und gegen eine angeblich bessere, ursprünglichere oder authentischere Form des Konsums auszuspielen. So werden konkrete politische und ökonomische Probleme auf den eigentlich apolitischen Aspekt von Lifestyle-Fragen reduziert. Ein Essay im New Yorker von 2020 liefert dafür ein gutes Beispiel. Am Ende beschreibt der Autor, wie sehr ihn ein Fundraiser für Künstler*innen in Not gerührt habe, den die Plattform Bandcamp veranstaltet hatte und wo es darum ging Merch und Tonträger zu verkaufen:
"Die Bandcamp-Spendenaktion und die Unterstützungsaufrufe von Musikern, Künstlern, Schriftstellern und Druckern haben die Befriedigung zurückgebracht, ein Album von einem Merch-Tisch mitzunehmen oder anzurufen, um ein Buch in einem örtlichen Buchladen zu bestellen. Das Gefühl hat weniger mit den unscharfen Werten physischer Medien im Vergleich zu digitalen Gütern zu tun, sondern vielmehr mit der Beziehung, die dieser Austausch kultiviert. Der Akt, jemandem die Hand zu reichen und im Gegenzug etwas Reales zu erhalten, ist befriedigend. Wie die Lieferketten, von denen wir uns in der Welt von Amazon längst entfremdet haben, ist auch die Beziehung zwischen Musikschaffenden und Zuhörern, zwischen Kunst und Wert, durch die Mechanismen des Musikstreaming und die Gier der großen Labels unbestreitbar gestört worden."
Diese Art von Materialitätsfetisch (auch in der Literatur zu beobachten ist), der aus der schieren Tatsache, dass man etwas in die Hand nehmen kann und dafür im besten Fall ein knisternden 20-Euro-Schein rüberschiebt, eine ganze Soziologie der zerstörten Einheit von Künstler*in und Publikum machen möchte, schadet dem Diskurs um Verteilungsgerechtigkeit enorm. Im New Yorker heißt es: "Wir haben verlernt, dass Musik ein engagiertes Publikum ebenso braucht wie Musiker."
Diese Vorstellung, dass Menschen, die ihre Musik streamen, kein richtiges Verhältnis zu dieser Musik haben, ist atemberaubend herablassend, allerdings nicht unrepräsentativ für den reaktionären Diskurs, der sich in Reaktion auf die Entmaterialisierung von Kunst in den letzten Jahrzehnten gebildet hat. Der Autor zitiert einen Text von Jace Clayton, der die Frage nach der Materialität zum Ausgangspunkt einer ganzen Ethik des Hörens macht. In diesem Essay wird beklagt, dass wir ohne die reichhaltigen Kontextinformationen eines materiellen Albums (die liner notes z.B. lol) unsere tiefe Verbindung zur Musik verlieren. Indem Spotify das wegwerfe, "werden wir dazu erzogen, Musik als wenig mehr als ein paar Megabytes digitaler Audiodaten zu betrachten, die auf von Google betriebenen Servern gespeichert sind."
Es ist eine deprimierende Beobachtung, dass Menschen offenbar die tiefe Verbindung zur Kunst nur empfinden können, wenn sie sich an der speckigen Materialität dieser Kunst festklammern. Für die politische Diskussion darüber, wer wie von der Kunst leben können soll, ist diese Form von Diskurs, die Kulturpolitik auf Fragen des individuellen Konsums reduziert allerdings eher schädlich. Ich hoffe, wir finden einen Weg, die technischen Innovationen der Rezeption angemessen zu genießen und trotzdem die spezifischen Ungerechtigkeiten zu kritisieren, die durch sie hervorgebracht werden.
Leseliste Sylt
Die Insel Sylt als Chiffre für eine alte Bundesrepublik, die im metaphorischen und wortwörtlichen Sinne untergeht, beschäftigt gerade die Feuilletons. Zuletzt hat Dirk Knipphals in der taz einen berührenden Text über sein Verhältnis zu der Insel geschrieben. Darin geht es auch darum, dass eine Geschichte, die man über Sylt erzählt, davon handelt, "wie die Insel in der alten Bundesrepublik zum Rückzugsort und Treffpunkt der Reichen, Mächtigen und Schönen geworden ist, wobei viele derjenigen Menschen, die sich übers Wochenende in Kampen und entlang der Wattseite trafen, auch die damals noch zentral in Hamburg angesiedelte Medienszene kontrollierten. Das sicherte dieser Geschichte dann auch gleich eine flächendeckende Verbreitung."
Die Art, wie Sylt und Kampen das alte Mediensystem und seinen unangenehmen Glamour verkörpert, zielt auch Silke Burmester ab, die in ihrem Abgesang auf Gruner + Jahr schreibt: "Günter Gaus, Fritz J. Raddaz, Ingrid Kolb, Michael Jürgs. Die einen Sack voll Geld verdienten und auf Sylt Häuser hatten. Die bis in die Ressortleiter-Position hinein einen Firmenwagen bekamen und unbegrenzte Spesenbudgets."
Sylt steht, wie es scheint, für eine Zeit vor der Medienkrise, einen Mythos der Printherrschaft. Auf diesen Umstand geht auch John Reiter in seinem Text auf 54books ein, der sich mit der eigentümlichen Art beschäftigt, wie Springer heute den Sylt-Mythos zu Werbezwecken verwendet und sich die Frage stellt, warum es durchaus begrüßenswert ist, dass zumindest dieser Teil der altbundesrepublikanischen Welt langsam untergeht.
Und: ein Song.
Hier noch was richtig schön Doofes
Die guten Tweets
[tweet https://twitter.com/vierpferde/status/1490393368102322181] [tweet https://twitter.com/FabienneHurst/status/1487357485547769858]