Die Pornographie des sich Deprimierenlassens
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt.
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Viral deprimiert
Letzte Woche haben wir bei 54books auf Twitter folgende Frage gestellt: "Was ist das deprimierendste Buch, das ihr je gelesen habt?" Solche Umfragen sind spannend und laden zum Austausch ein. Die Antworten bieten aber auch Material für eine nicht gerade wissenschaftliche, aber trotzdem interessante Alltagssoziologie der Literatur. Der Roman, der am häufigsten genannt wurde, war The Road von Cormack McCarthy, eine postapokalyptische Erzählung über einen Vater und seinen Sohn, die sich auf einer verzweifelten Reise nach Süden aufmachen. Andere Romane, die mehrfach genannt wurden, waren zum Beispiel Hanya Yanagiharas A Little Life oder José Saramagos Die Stadt der Blinden.
Die Tatsache, dass Erzählungen, gerade dann, wenn sie sich im Hochkultursegment verorten, oft extrem deprimierend sein können, ist schon länger Gegenstand von Satiren. In der Serie 30 Rock nimmt der Comedian Tracy Jordan eine Rolle im 'Prestige Drama' Hard to Watch an, ein Film, der auf dem Roman Stone Cold Bummer beruht. Der Scherz bezieht sich auf die Tatsache, dass es eine klare kulturelle Hierarchisierung zwischen leichtherziger und humoristischer Kunst gibt und der schweren, ernstes Erzählkunst, die sich mit schrecklichen Dingen beschäftigt. Tracy verspricht sich von der Rolle einen Zuwachs an kulturellem Kapital, der dazu führen soll, dass er als Künstler ernst genommen wird.
Der fiktive Film in der Serie ist eine Parodie auf den damals vielgelobten Film Precious, allerdings könnte die Parodie auch zahlreiche Serien des sogenannten "Quality TV" treffen, wo Tiefe und ästhetische Hochwertigkeit teilweise durch eine wahllose Akkumulation von Schrecken erschwindelt wurde - eine erzählerische Strategie, die sich möglicherweise langsam erschöpft hat. Ich musste jedenfalls beim Anschauen der ersten drei Folgen der HBO-Serie The Mare of Easttown mehrfach lachen, weil die dichte Anhäufung von deprimierenden Reizthemen (Alkoholismus, Armut, Teenage Pregnancy, häusliche Gewalt, Krebs, Kindesmissbrauch, und das alles in den ersten zwei Folgen) auf einer Art und Weise übertrieben wirkte, die selbst schon wieder nah an der Satire lag. Ein Eindruck, den die bierernste und ästhetisch konventionell angedunkelte Serie sicher nicht vermitteln wollte.
Die Parodie auf die Story "of another grizzled lady detective" auf SNL bringt diesen Widerspruch sehr gut zum Ausdruck. Bestimmte Formen der ästhetischen Ernsthaftigkeit, die eigentlich aus einer Tradition entstammen, die erzählerischen Klischees bekämpfen wollte, sind selbst zu Klischees geworden.
Die kunstsoziologische Beobachtung, dass man mit deprimierenden Geschichten kulturelles Kapital einwerben kann, erklärt allerdings noch nicht die Tatsache, dass Menschen diese Geschichten gerne konsumieren. Das Publikum ist in dieser Hinsicht immer ein wenig schlauer als die Produzent*innen und die Kultur, die Wert zuweist oder abspricht. Zwar lassen sich Menschen, gerade aus dem Bildungsbürgertum, oft dazu überreden, Kunst zu rezipieren, die man gar nicht rezipieren möchte, aber irgendwann meldet sich der hedonistische Reflex zu Wort und führt einen wieder zu den Erzählungen, die man man wirklich konsumieren möchte.
Und dazu gehören eben in hohem Maße auch extrem deprimierende Geschichten, die mit Begeisterung gelesen, gehört, geschaut werden. Die Rezeptionspraxis ist so alt wie die Erzählkunst selbst, aber ich hab bisher noch keine wirklich plausible Erklärung dafür gefunden, warum man Dinge, die man in seinem realen Leben nach Möglichkeit zu vermeiden versucht, in seiner Freizeit, meist nach Feierabend bewusst aufsucht und sogar dafür bezahlt. Warum lesen wir Romane wie The Road oder A Little Life? Warum lassen wir uns zuweilen im gleichen Zeitslot, der für Computerspiele, TV-Abende und gemeinsames Weggehen vorgesehen ist, von fiktionalen Geschichten niederdrücken, entmutigen, desillusionieren? Der Tweet mit der Frage nach dem deprimierendsten Buch ist jedenfalls auf eine Art und Weise viral gegangen, wie wir das noch nie erlebt haben. Zum jetzigen Zeitpunkt hat er über 1.000 Antworten! Deprimierende Geschichten scheinen etwas zu sein, was für viele Menschen einen wichtige Rolle spielt. Ein Tweet zu Douglas Stuarts Roman Shuggie Bain bringt die Widersprüchlichkeit dieses Rezeptionsphänomens sehr schön zum Ausdruck:
Über die Diskussion zu Yanagiharas A Little Life habe ich hier und hier schon geschrieben. Der Roman ist dermaßen deprimierend, dermaßen vollgepackt mit Leid und Schrecken, dass ihm schließlich eine Art sado-masochistische Poetik unterstellt wurde, die ein pornographisch anmutende Nachfrage nach fiktivem Leid auf Seiten der Leser*innen befriedigt. "Misery Porn" ist ein Wort, das für diese Literatur manchmal verwendet wird. Ich finde den Begriff gar nicht so schlecht, weil er darauf verweist, dass die Rezeption von Kunst immer auch etwas mit Lust zu tun hat, das es immer einen Aspekt der Unterhaltung gibt - egal wie stark wir uns vormachen, dass es darum geht, sich zu informieren oder sich gesellschaftlichen Phänomenen zu stellen oder die reine Ästhetik zu bewundern. Der Blick auf die pornographischen Aspekte der Rezeption öffnet die Perspektive für die vielen Gründe für den Konsum von Geschichten, die in der offiziellen ästhetischen Theorie keine Rolle spielen. Ich würde gerne einmal ein Essay über The Road lesen, das den Roman als Zeugnis einer künstlerischen Lust am Deprimierenden, als Beispiel für eine Rezeptionsästhetik des Deprimiertwerdens analysiert.
Die guten Texte
Ein guter Essay über das Erbe Antonio Gramscis findet sich hier. Der Text enthält unter anderem diesen Geistesblitz: "Der Glaube, dass Gramsci den kulturellen Bereich in irgendeiner Weise gegenüber dem politischen und wirtschaftlichen privilegierte, trug dazu bei, die materialistischen Allergien von mindestens zwei Generationen von Professoren zu rechtfertigen, während ihr nomineller Radikalismus intakt blieb." Ein spannendes Buch über den rechten Publizisten William Buckley und den Mörder und Psychopathen, von dem er sich benutzen lies, wird hier rezensiert. Und ein lesenswerter Text über H.G Wells, den widerwilligen Vater von Science Fiction. Alle drei Texte, wie ich gerade sehe, in der New Republic, die gerade einen guten Run zu haben scheint.
Leider bemerke ich erst im Nachhinein, dass die New Republic eine harte Paywall für alle Artikel hat inzwischen. Man kann sich wegen den Texten gerne melden.
Und: ein Song.
Die guten Tweets
[tweet https://twitter.com/pigeonspit/status/1505996789794709526] [tweet https://twitter.com/peterbreuer/status/1506207205510504459]