Die Explosion der Feedbackkultur
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt.
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Sommerpause
Die Hitzewelle rollt heran, das Semester geht zu Ende, Twitter bäumt sich vor dem nahenden Sommerloch ein letztes Mal auf - und ich merke, dass meine Batterien inzwischen recht leer sind. Deshalb werde ich jetzt mit diesem Newsletter bis Ende August in die Sommerpause gehen. Danach bin ich wieder da mit neuen Debatten, Texten und Tweets! Ich freue mich sehr, wie viele Menschen inzwischen regelmäßig diesen Newsletter lesen, ihn teilen, kritisieren, diskutieren. Ich hoffe, ihr bleibt mir gewogen.
Review Bombs
Eine Frage, die mich schon seit längerem sehr interessiert, ist, wie die Macht der Kritik sich durch die Digitalisierung verändert hat. Der massive Schub an Teilhabe, der durch die publizistische Infrastruktur des Internets ausgelöst wurde, ermöglicht vielen Menschen, sich an der ästhetischen Kommunikation über Bücher, Filme, Musik etc. zu beteiligen. Das schränkt die Macht etablierter Gatekeeper natürlich ein und kann emanzipative Folgen haben. Es kann aber auch dazu führen, dass dunkle Aggressionen, die sich im Diskurs um ästhetische Artefakte verdichten, zum Vorschein kommen (siehe Heard/Depp). Über diesen Prozess habe ich vor einiger Zeit einen Text geschrieben, der sich an vielen, teilweise wilden Beispielen entlanghangelt und zeigen soll, wie die Kritik im Zeitalter des digitalen Plebiszits herausgefordert wird:
Im Juni 2020 wurde das Videospiel The Last of Us Part II zum Opfer einer sogenannten „Review Bomb“. Mit „Review Bomb“ bezeichnet man ein Diskursereignis, in dem ein Film, ein Videospiel, ein Buch oder eine Serie auf digitalen Rezensionsplattformen wie Metacritic oder Amazon mit schlechten Rezensionen bombardiert wird. Es handelt sich um eine effektive Form des öffentlichen Protests, da so der Durchschnitt der kritischen Bewertung eines populärkulturellen Artefakts sichtbar heruntergezogen wird. Im Fall von The Last of Us Part II, einem postapokalyptischen Action-Adventure Spiel, hatte diese Reaktion mehrere Gründe. Zum einen protestierte eine reaktionäre Fraktion der Gamer Community gegen die Inklusion von queeren Charakteren; zum anderen richtete sich der Protest gegen einen narrativen Kunstgriff des Spiels. Gleich zu Beginn der Handlung wird nämlich eine beliebte Figur aus dem ersten Teil von The Last of Us brutal ermordet. Im Verlauf des Spiels verkörpert man dann überraschend eine Weile die Mörderin dieser Figur.
Was an diesem Fall ins Auge sticht, ist nicht nur die Intensität, mit der die Kontroverse über diese erzählerische Strategie geführt wurde, sondern auch, dass es zu einer öffentlichen Frontstellung zwischen professionellen Kritiker*innen und einem großen Teil des Publikums kam. Das lässt sich auf Metacritic an dem signifikanten Unterschied zwischen Metascore (dem Durchschnittswert der etablierten Kritiken) und dem Userscore (dem Durchschnittswert der nicht-professionellen Rezensionen) ablesen. Die Kritiken waren von dem inklusiven Personenregister und der fragmentierten Handlung, die zu einer Reflexion moralischer Ambivalenz in Videospielen führen sollte, begeistert. Viele Fans dagegen fühlten sich einer geliebten Identifikationsfigur beraubt und von der Handlung manipuliert. Offenkundig prallten hier zwei unterschiedliche Bewertungssysteme aufeinander, die sich nicht nur durch unterschiedliche Kategorien auszeichnen, sondern auch durch einen augenfälligen quantitativen Unterschied. Im Februar 2021 standen den 121 Kritikermeinungen 152.219 Laienrezensionen entgegen.
Was sich hier ankündigt, und in Phänomenen wie der „Review Bomb“ auf besonders explosive Art zum Ausdruck kommt, ist ein generelles Misstrauen gegen gefestigte Institutionen der ästhetischen Meinungsbildung – ein Misstrauen, das sich im Zeichen der digitalen Gegenwart immer mehr radikalisiert. Kritiker*innen für etablierte Medien, eine als ästhetische Elite wahrgenommene Autorität, werden herausgefordert. Es handelt sich dabei um eine Tendenz, die zwar durch die digitalen Möglichkeiten der diskursiven Teilhabe neue Ausmaße erreicht, allerdings in ihrer inhaltlichen Polemik keineswegs neu erscheint. Die Macht der Kritiker stand schon immer unter Beschuss. Ein gewisser Autoritätskonflikt gehört zu den konstituierenden Charakteristika jeder Kunstkritik. [weiterlesen]
Ein gutes Webcomic
Die guten Texte
Korallen, Mord und eine Wissenschaftskarriere. In diesem Essay wird die spannende Geschichte einer Familientragödie erzählt.
Die 70er Jahre müssen gerade als beliebte historische Analogie herhalten, um die Krisen der Gegenwart besser verständlich zu machen. Adam Tooze schreibt darüber, darum dieser Vergleich nicht ganz angemessen ist.
Was in diesem Text auseinandergenommen wird, sind die Strategien von professionellen Welterklärern wie Richard David Precht oder Serdar Sumuncu. Simon Sahner schreibt über eine problematische Figur der Gegenwart.
Und: ein Song.
Die guten Tweets
[tweet https://twitter.com/notthechips/status/1546311258714083328]