Die doppelte Bild-Zeitung
Wie "Noch wach" von Benjamin von Stuckrad-Barre auf bewährte Strategien des Schlüsselromans zurückgreift.
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Schlüsselromania
Das feuilletonistische Großereignis um Benjamin von Stuckrad-Barres Roman Noch wach ist schon fast wieder verraucht. Inzwischen ist auch ein Text von mir dazu erschienen, den man hier nachlesen kann. Der Roman wurde als Schlüsselroman vermarktet, der Entüllungen über Mathias Döpfner, Julian Reichelt und den Springer-Verlag bereithalten sollte. Als Schlüsselromane bezeichnet man Texte, die sich offiziell als fiktional ausweisen, inoffiziell aber Signale senden, dass man reale Vorbilder hinter den fiktiven Figuren erkennen (also entschlüsseln) kann.
Seit dieser Woche ist mein Buch zu diesem Thema, Indiskrete Fiktionen, digitale frei verfügbar. Ein guter Zeitpunkt, um noch einmal über diese seltsameste aller Gattung nachzudenken und einen Nachtrag zu meinem Essay über Noch wach zu liefern.
Der Schlüsselroman ist auf eine komplexe Kommunikationssituation angewiesen, um zu funktionieren. Sind die Signale zu offensichtlich, riskiert man rechtliche Konsequenzen. In der Begründung des Verbots von Maxim Billers Roman Esra heißt es etwa, die Figuren seien zu nah an ihren Vorbildern, die Handlung sei nicht ausreichend fiktionalisiert. Wenn man dagegen zu wenig Signale sendet, kann es sein, dass niemand erkennt, wer die Vorbilder überhaupt sein sollen. Die Autor:in eines Schlüsselromans ist also auf das Wissen ihrer Leser:innen angewiesen und auf die Medien, die dieses Wissen verbreiten sollen.
Es gehört zu den konstitutiven Merkmalen des Schlüsselromans, dass immer geleugnet wird, dass es sich um einen Schlüsselroman handelt. Viele dieser Bücher arbeiten mit Strategien, die gleichzeitig den eigenen Status andeuten und die Leugnung dieses Status markieren. Ein bekanntes Instrument ist die Fiktionsbeteuerung zu Beginn eines Buches, in der noch einmal mit großer Geste darauf verwiesen wird, dass die Figuren, Ereignisse und Ort im Roman erfunden sind. Auch bei Stuckrad-Barre findet sich eine solche Beteuerung:
Diese Texte haben die transparente Funktion, Autor und Verlag gegen den Vorwurf abzusichern, dass reale Menschen attackiert werden könnten. Allerdings ist eine weitere Funktion auch, auf diese Möglichkeit überhaupt erst hinzuweisen. Ein Roman, der eine solche Beteuerung nicht nötig hat, könnte darauf ja auch gut verzichten. Was hier also vor allem signalisiert wird, ist eine gewisse Gefahr, in die sich der Autor angeblich gebracht hat und der er gerne entgehen möchte. So werden die Leser:innen durch einen Text, der Entschlüsselung angeblich verbieten soll, zum Entschlüsseln zusätzlich angeregt.
Ähnlich funktioniert eine andere Strategie von Schlüsselromanen: die Verdoppelung von Figur und Vorbild. In diesem Fall lässt man in der Welt des Romans die realen Personen auftreten, auf die eine fiktive Figur anspielen soll. In der unter dem Pseudonym Jens Walther veröffentlichten Literaturbetriebssatire Der Abstieg vom Zauberberg etwa gibt es eine Figur, Claude Müller-Marceau, die offenkundig auf Marcel Reich-Ranicki verweist. Gleichzeitig wird der reale Reich-Ranicki im Text aber auch genannt.
Diese Form der Verdopplung dient einerseits als Alibi: Claude Müller-Marceau kann gar nicht Reich-Ranicki sein, denn er taucht ja schon im Roman auf. Andererseits wird durch die geschickte Assoziation beider Figuren der Effekt der Wiedererkennbarkeit aber eher verstärkt als aufgehoben. So gilt Müller-Marceaus Fernsehshow Triade als “Antwort eines Privatsenders auf das Literarische Quartett mit Marcel Reich-Ranicki”. Das Beispiel zeigt, wie stark bei Schlüsselromanen die Strategien der Abweichung mit den Strategien des Kenntlichmachens konvergieren. Man könnte sagen, die Spuren müssen auf eine solche Art verwischt werden, dass sie noch immer zum Ziel führen.
Auch in Stuckrad-Barres Noch wach gibt es eine Stelle, die eine solche Verdoppelung vollzieht. Recht zu Beginn des Romans sitzen der Erzähler und sein Freund, der Senderchef (die Figur spielt auf Mathias Döpfner an) in einem Auto und unterhalten sich über einen Skandal, der sich bei der Bild-Zeitung abgespielt hatte. Es geht um einen realen Skandal. Im Jahr 2017 war der ehemalige Chefredakteur Kai Diekmann von einer Mitarbeitern wegen Belästigung angezeigt worden. Der Erzähler möchte diesen Skandal nutzen, um seinen Freund in ein Gespräch über das Fehlverhalten seines Chefredakteurs zu verwickeln.
Auch in diesem Fall geht es darum, gleichzeitig ein Alibi aufzubauen und ein klares Signal zu senden, worum es geht. Der Sender und die Bild existieren im selben Universum, was den Vorwurf abwehren soll, das eine wäre das andere. Gleichzeig wird die Bild als Vorbild des Senders aufgerufen und der Fall Diekmann als Präfiguration des Falles Reichelt evoziert. Das ist, wie so oft bei Schlüsselromanen, alles nicht besonders subtil. Allerdings handelt es sich auch um eine der wenigen Gattungen, in der man eine hinter einer fiktiven Figur versteckte reale Person über die eigene Zeitung sagen lassen kann, dass es sich um ein “Drecksblatt” handelt. Hier liegt die eigentliche Schlagkräftigkeit des Schlüsselromans, der mit seinen Strategien des verdeckten Schreibens eigentlich immer komplett im Offenen agiert. Aus realen Menschen werden Figuren, die man Dinge tun und sagen lassen kann, die sie so vielleicht gar nicht gesagt haben. Durch die Rezeptionshaltung, die die Gattung den Leser:innen aufbürdet, steht aber alles, was im Roman steht, unter Realitätsverdacht.
Die guten Texte
Ein spannender Essay in Dissent, über den Report zum Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021.
Ein neues Buch beschäftigt sich mit den “Pornography Wars”.
Ein personal Essay über eine Jugend unter dem Schatten von Bully Herbig und “Der Schuh des Manitu”.
Die guten Tweets
https://twitter.com/elhotzo/status/1655228440000208897?s=20
https://twitter.com/peterdhintz/status/1653441925490278401?s=20
https://twitter.com/Nietzsxhe/status/1650861170042241024?s=20
Eine sehr gute Serie über Politik
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