Das Vergehen: Mord. Das Motiv: Podcast.
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt.
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Am Mittwoch ist in der FAZ ein Essay von mir erschienen, der sich mit dem True-Crime-Boom der Gegenwart beschäftigt. Was mich an dieser kulturellen Obsession besonders interessiert, sind die ethischen Probleme, die durch das Erzählen 'wahrer' Verbrechen entstehen können. In diesem Fall ging es um die Frage, wie man damit umgeht, dass Menschen, die ein Verbrechen begangen haben, inzwischen eine gute Chance haben, von der Narrativierung dieses Verbrechen zu profitieren. Billy McFarland, der für das Fyre-Festival-Fiasko verantwortlich war, begann im Wesentlichen in dem Moment, als die Katstrophe sich abzeichnete, an eine Dokumentation zu denken und lies sich später für die Mitwirkung an der Erzählung seiner Geschichte großzügig bezahlen. Simon Leviev, der als Tinder Swindler berühmt wurde, steht in den Startlöchern, um seinen zweifelhaften Ruhm irgendwie zu Geld zu machen. Auch Anna Sorokin, die als falsche Erbin die High Society New York Citys an der Nase herumführte, hat für die Rechte an ihrer Geschichte von Netflix Geld bekommen.
Unser Hunger nach Geschichten über Gauner, Diebe und Mörder schafft eine seltsame Anreizstruktur. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis jemand ein Verbrechen begehen wird, mit dem einzigen Motiv, daraus später ein lukratives True-Crime-Format zu machen. Das Vergehen: Mord. Das Motiv: Podcast.
Um diese Art des Profits zu vermeiden, wurden in den USA in manchen Bundesstaaten die Son-of-Sam-Laws eingeführt. Diese Gesetze bezogen sich auf den Serienmörder David Berkowitz, dessen mediale Präsenz nach seiner Verhaftung die Angst aufkommen ließ, er könnte seine Geschichte in Form eines Buches vermarkten. Solche Profite sollten vom Staat eingezogen und an die Opfer weitergeleitet werden. Dabei handelt es sich auch um eine kulturelle Disziplinierungsmaßnahme. Sie bringt einen Mangel an Vertrauen in eine Gesellschaft zum Ausdruck, der man jederzeit zutraut, noch den schlimmsten Verbrechern ihre Geschichten gierig abzukaufen.
Wie wirkungslos solche Disziplinierungsmaßnahmen sein können, zeigt ein Artikel in Rolling Stone über Anna Sorokins Art Show. Die verurteilte Betrügerin betätigt sich inzwischen nämlich als Künstlerin, was auch zu funktionieren scheint, denn der geschätzte Wert der Kollektion bei ihrer Show lag offenbar zwischen 400.000 und 500.000 Dollar. Die Kunst ist dabei eher nebensächlich, ästhetisch provozierend vielleicht höchstens in ihrer Lachhaftigkeit. Aber in der entfesselten Name Economy, in der ein berühmter Name das wichtigste Kapital ist, haben es Quereinsteiger*innen in den Kunstmarkt einfach. Zumal kunsttheoretische Klischees wie die Vorstellung, dass die Performance oder die Person das eigentliche Kunstwerk sind, den Transfer von Aufmerksamkeit in kulturelles Kapital stark erleichtert haben.
Es ist nicht sonderlich originell, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass Anna Sorokin/Delveys Karriere als Künstlerin den Kunstmarkt selbst irgendwie als Schwindel entlarvt. Genaugenommen scheint das auch ein Aspekt des Kunstprojekts selbst zu sein, das man auf diese Art als kritische Performance theoretisch schönbeten könnte. Das ist allerdings ziemlich uninteressant. Faszinierend und erschreckend erscheint dagegen die Antwort auf die Frage, warum diese Art von Performance ein begeistertes Publikum findet. Die Autorin des Artikel EJ Dickson schreibt darüber:
"Auf Instagram, wo sie eine Million Follower hat, erhält sie regelmäßig zustimmende Kommentare von ihren Fans, Millennial-Frauen und schwulen Männern, die mit einer ständigen Diät aus True-Crime, raffiniert gedrehten Scammer-Narrativen und weißem Yasskweenslay-Feminismus gefüttert werden, der uns lehrt, dass eine beliebige Anzahl von Wirtschaftsverbrechen für Frauen total ermächtigend sein kann, vorausgesetzt, sie reden dabei komisch oder tragen Miu Miu."
Der Fall Anna Sorokins macht deutlich, dass es heute fast unmöglich ist, keine Fans zu haben, wenn man berühmt ist, egal, wofür man berühmt ist. Menschen identifizieren sich mit den seltsamsten Figuren, hängen ihre Gefolgschaft und Loyalität an arbiträre Phänomene. Wo jemand viel Aufmerksamkeit bekommt durch eine spektakuläre Narrativierung, da entsteht im nächsten Moment schon ein Kult. Und so wird aus einer Betrügerin wie Anna Sorokin plötzlich eine feminist icon, hinter die man sich stellen muss und die es verdient hat, gefeiert zu werden.
Ich frage mich, ob das daran liegt, dass wir verlernt haben, eine gewisse Distanz zu den Geschichten, die wir genießen einzunehmen. Der Aufstieg des faktualen Erzählens hat die Nähe zwischen der Rezipient*in und dem Gegenstand der Geschichte stark erhöht. Gleichzeitig erzeugt diese Nähe auch ein ethischen Problem, denn am Ende geht es ja vor allem darum, diese Geschichten als Unterhaltung zu rezipieren. Das ist bei fiktionalen Erzählungen ein weniger großes Problem als bei faktualen Erzählungen, die ein ethisches Urteil fast zwangsläufig einfordern. Die Frage, die sich daran anschließt, lautet: Ist die Identifikation mit der Figur einer faktualen Erzählung eine Art Legitimation dafür, ihre Geschichte genießen zu können?
Die guten Texte
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Die guten Tweets
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