Das "Nicht-Jetzt-Syndrom"
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt.
Wenn dir dieser Newsletter gefällt, und du ihn regelmäßig liest, könntest du überlegen, ihn zu unterstützen. Das geht auf folgende Arten: Weiterempfehlen oder auf den Sozialen Medien teilen. Oder unterstütze ihn finanziell für nur 4 Euro Pro Monat. Oder per Paypal. Falls einer der Texte, um die es hier geht, beim besten Willen nicht aufzutreiben ist, schreibt mir gerne. Ich freue mich auch über Rückfragen und Feedback.
Eine extrem periphere Geschichte aus der Videospielindustrie hat mich in den letzten Wochen über den Zusammenhang von Krisenereignissen, Aktualität und Medienethik nachdenken lassen. Nintendo gab Anfang März bekannt, dass der Release für das Videospiel Advanced Wars angesichts aktueller Ereignisse auf unbestimmte Zeit verschoben werde. Advanced Wars ist ein Strategiespiel, in dem es, wie der Name schon sagt, um Krieg geht.
Nun ist Advanced Wars im Gegensatz zu anderen Kriegsspielen wie die Call of Duty-Reihe alles andere als realistisch. Die kindliche Comicgrafik nimmt der dargestellten Gewalt jede Wucht - ein im Vergleich harmloses Spiel. Und doch sah sich Nintendo gezwungen, die Veröffentlichung zurückzuziehen, um sich nicht den Vorwurf einzuhandeln, respektlos gegenüber den Opfern des russischen Angriffs auf die Ukraine zu sein.
Der Fall erinnert an den Beginn der Pandemie, als in China das Spiel Plague Inc. verboten wurde, in dem man einen Virus steuert, dessen Ziel es ist, die Weltbevölkerung auszulöschen. Auch in diesem Fall ging es nicht um das grundsätzliche Problem, dass ein Spiel es ermöglicht, im Rahmen der Fiktion Menschen zu töten, sondern um den Zeitpunkt. Offenbar gibt es in Kulturen unterschwellige Regeln, wann man mit dem Grauen spielen darf, und wann nicht. Diese Regeln sind alles andere als klar definiert. Denn sonst hätten die konstanten Kriege auf der Welt auch andere Spiele verhindern müssen.
Es ist aber ein bestimmte Form von medialer Präsenz, die eine Firma wie Nintendo dazu zwingt, ein Spiel zu verschieben. Dahinter steht die Angst vor einem öffentlichen Backlash. Vielleicht befürchtet man aber auch die Unlust der Spieler*innen, sich ausgerechnet in Zeiten, in denen Krieg extrem medial präsent ist, auch spielerisch damit zu beschäftigen. Wobei diese Angst womöglich unberechtigt wäre. Plague Inc. existierte zu Beginn der Pandemie schon länger und erlebte damals einen riesigen Anstieg der Verkaufszahlen. Es kann gut sein, dass Menschen im Angesicht einer ernsthaften Katastrophe gerade das Bedürfnis überfällt, sich mit der Katastrophe spielerisch auseinanderzusetzen. Verbote und Verschiebungen könnten also auch Disziplinierungsmaßnahmen für eine Kultur sein, der man zutraut, aus jeder Katastrophe eine Freizeitgestaltung zu machen.
Die extreme diskursive Präsenz von Krisen wirft die Kultur auf Fragen der Angemessenheit zurück, was deren mediale Repräsentation angeht. Darüber habe ich vor zwei Wochen schon einmal geschrieben, als es um das Problem des "context collapse" ging, also den Mechanismus, dass schreckliche Ereignisse auf Plattformen verhandelt werden, deren Ästhetik für diese Verhandlung nicht vorgesehen war. Der Fall Advanced Wars verweist wiederum auf etwas, das man als "Nicht-Jetzt-Syndrom" bezeichnen könnte: Die Krise baut einen zeitlichen Kontext auf, der ethische Anforderungen an Kunst, Unterhaltung und Medien neu justiert. Im Fall des Videospiels würde das bedeuten: Im Frieden darf man Krieg spielen, im Krieg nicht. (Wobei "Frieden" natürlich das solipsistische Konstrukt der jeweiligen Kultur ist.)
Das "Nicht-Jetzt-Syndrom" betrifft vor allem die Frage, wann es angemessen ist, aus Schrecken Kunst zu machen. Als die ersten Corona-Romane und Corona-Filme veröffentlich wurden, habe ich einen Artikel über die ethischen und ästhetischen Probleme geschrieben, die sich daraus ergeben können. Darin ging es auch um die Geschichte des Dichters Phrynichos, der zu Beginn des fünften Jahrhunderts vor Christus zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil er in seiner Tragödie Die Einnahme von Milet das Trauma der Zerstörung der Stadt Milet durch die Perser wenige Jahre zuvor verarbeitet hatte. Das kam offenbar bedeutend zu früh, denn die Aufführung löste im Publikum einen Anfall schmerzhafter Trauer aus. Das Stück wurde für immer verboten.
Phrynichos war ein frühes Opfer des "Jetzt-Nicht-Syndroms". Seine Geschichte verwendete der Essayist Daniel Mendelsohn in einem Text zu Filmen über 9/11, wo er die Frage stellt, wann es angemessen erscheint, sich mit dieser nationalen Katstrophe künstlerisch auseinanderzusetzen. Allerdings drängen sich Parallelen auch zu anderen Konflikten über künstlerische und mediale Verarbeitungen auf. Die Gegenwart gibt jeweils Regeln der Angemessenheit vor, die sich ständig verändern können. Was heute als angemessen erscheint, kann morgen schon vollkommen unangebracht wirken. Das führt zu kulturellen Diskontinuitäten, da etwa die Unterhaltungsindustrie oder das Hochkultursegment nach anderen zeitlichen Mustern voranschreitet als die politische Berichterstattung. Gegenwärtigkeit oder Aktualität ist etwas, was von Kunst oft eingefordert wird - was allerdings noch fehlt, ist eine Theorie der verfehlten Gegenwärtigkeit und des kulturell verordneten Aktualitätsverbots.
Ein gutes Webcomic
Die guten Texte
Der extrem erfolgreiche französische Rechtsradikalismus ist gespalten, ein Konflikt, der auch durch die berühmteste rechtsradikale Familie des Landes geht. Dazu findet sich hier ein Longread. Ein sehr gutes Porträt über den Regisseur des neuen Wikinger-Films The Northman kann man hier lesen. Außerdem: Welche Rolle spielt Afghanistan in der deutschen Literatur? Dazu gibt es hier einen lehrreichen Essay.
Und: ein Song.
Die guten Tweets
[tweet https://twitter.com/spaminem/status/1509143363156688901] [tweet https://twitter.com/eulengeschmack/status/1508382685642772484]