Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt. Wer sich für Streitereien und Debatten über Bücher, Filme, Musik, Serien und viele andere Dinge, die uns entzweien, interessiert, der ist hier an der richtigen Stelle.
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Bibliotheken sind das Flatratesaufen des Lesens
Die Buchmesse beginnt und die Buchbranche hat ihren saisonalen Aufreger. Nein, es ist nicht die Tatsache, dass den Druckereien das Papier ausgeht, sondern die Nachricht, dass es neue Lizensierungsregeln für die Ausleihe von eBooks in Bibliotheken geben soll. Dagegen protestiert eine doppelseitige Anzeige, unter anderem in der FAZ, wo unter dem Motto „Fair lesen“ ein offener Brief veröffentlicht wurde, den zahlreiche Autor*innen (oder, wie der Spiegel titelte, die deutsche "Literaturprominenz") unterschrieben haben. Den Brief kann man hier nachlesen (kommt es mir eigentlich nur so vor, oder erinnert die Ästhetik ein wenig an alte GEZ Kampagnen?). Demnach bedrohen die Neuregelungen der sogenannten "Onleihe" die ganze Kultur: "Mit anderen Worten: Die erzwungene Online-Ausleihe zu Niedrigpreis- Bedingungen – insbesondere für Neuerscheinungen – wäre ein wirtschaftliches Desaster für alle, die vom Kulturgut Buch leben. Wer die Onleihe für E-Books nahe am Nulltarif fordert, der bedroht die literarische Freiheit in unserem Land."
Dieser offene Brief, der in verschiedenen Tageszeitungen abgedruckt wurde, hat in den Sozialen Medien für ziemliche Irritation gesorgt. Und das nicht nur wegen des gewohnt hyperbolischen Tons, mit dem inzwischen wirklich jede Diskussion dieser Art geführt werden muss - ein Schuft, wer bei der Formulierung "die literarische Freiheit in unserem Land" nicht wenigstens ein bisschen schmunzeln musste. Unter anderem wurde der Brief als Angriff auf die Institution der Bibliothek und als Fake News bezeichnet. Und es wurde der Vorwurf erhoben, die unterzeichnenden Autor*innen würden die Sachlage gar nicht kennen. Das wiederum rief einige der Autor*innen auf den Plan, die den Brief unterzeichnet hatten. Manche, wie Sibylle Berg oder Jagoda Marinić äußerten sich kämpferisch, andere distanzierten sich wieder wie etwas Hengameh Yaghoobifarah. Der Hanser Verleger Jo Lendle äußerte sich ebenfalls in einem längeren Thread.
In jedem Fall hat der Brief eine Diskussion darüber ins Rollen gebracht, wie Autor*innen und Verlage für ein digitales Verleihwesen kompensiert werden sollen. Dabei herrscht, vielleicht vor allem bei mir, auch große Unsicherheit, wie das alles überhaupt aussieht und aussehen soll. Es scheint auf jeden Fall nicht so zu sein, dass eine Flatrate für eBooks gefordert wird. Die Anzahl und Frequenz der verleihbaren Exemplare bemisst sich, wenn ich das richtig verstanden habe, an den erworbenen Lizenzen. Der offene Brief ist in dieser Hinsicht jedenfalls alles andere als informativ. Das gilt auch für ein Interview mit der Piper Verlegerin Felicitas von Lovenberg, die etwas unklar suggeriert, die Bibliotheken könnten 50 Exemplare gleichzeitig verleihen. Allerdings scheint hier durch, worum es eigentlich geht, nämlich dass die Verlage ihre Beststeller aus der Onleihe so lange wie möglich heraushalten wollen. Einen eigentümlich ehrlichen Post dazu findet man auch hier.
Wie es – bisher – läuft, zeigt wohl eher dieser Tweet einer Bibliothekarin:



Aber vielleicht kann mir jemand noch eine andere Frage beantworten, die mir seit der Veröffentlichung des offenen Briefes unter den Nägeln brennt. Nämlich: Was hat das gekostet und wer hat es bezahlt. Eine Doppelseite im Politikteil kann laut den Mediendaten der FAZ gut und gerne auf 100.000 bis 150.000 Euro kommen, bei der SZ sieht es ähnlich aus. Man muss doch schwer davon ausgehen, dass hier nicht die unterzeichnenden Autor*innen zusammengelegt haben, sondern dass die Zeche für diesen Protest eher von den Verlagen gezahlt wurde? In jedem Fall scheinen dort ein paar mittlere Vorschüsse für Romane investiert worden zu sein, um gegen die Neuregelung der Onleihe zu protestieren.
Gestern Abend hat Falko Löffler noch einen, wie ich finde, sehr guten Kommentar zum Thema veröffentlicht: "Wenn die Onleihe wirklich so ein durchschlagender Erfolg ist und ganze Menschenmassen digital Schlange stehen, dann lese ich daraus vor allem: Es gibt hierzulande einen riesigen Bedarf an bezahlbaren E-Books."
Ippen killt umsonst die Reichelt Story
Um den Zusammenhang von Medien und Geld geht es auch in dieser Geschichte. Offenbar wurde ein Dossier über die Vorwürfe der Belästigung gegen den Bild-Chefredakteur Julian Reichelt, das bei Ippen Investigativ erscheinen sollte, nach einer Intervention des größten Anteilseigners Dirk Ippen gekilled (hier ein Bericht bei Übermedien). Der naheliegende Vorwurf steht im Raum, dass Springer seine Macht eingesetzt hat, um kritische Berichterstattung zu unterbinden. Es ist jedenfalls beschämend für das deutsche Mediensystem, dass die wichtigen Informationen nun zunächst in einem Artikel der New York Times standen. Dieser Artikel wurde viel geteilt und kommentiert.
Die Redaktion von Ippen Investigativ hat einen wütenden offenen Brief geschrieben, der das ganze Ausmaß der redaktionellen Katastrophe offenbart, die so ein Eingriff bedeutet. Der Ruf von Ippen Investigativ (vormals Buzzfeed News Deutschland) erscheint aber, ohne das Verschulden derjenigen, die journalistische Arbeit machen, vorerst beschädigt. Man kann sich kaum einen zukünftigen Inhalt vorstellen, der von diesem Eingriff eines Anteilseigners unkontaminiert bleiben wird. Das führt wiederum zur übergeordneten Frage, was es bedeutet, wenn Geld und Text in einem dermaßen toxischen Verhältnis zueinander stehen. Eine Folge der Digitalisierung ist der Zusammenbruch der Werbeeinnahmen im etablierten Mediensystem und damit einhergehend eine Ent-Finanzierung journalistischer Arbeit. Wenn Leser*innen wollen, das mächtige Menschen für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden, dann müssen sie damit anfangen, selbst für ihre Medien zu zahlen.
Die Bitterkeit dieses Abschnitts, der eigentlich den Titel trug "Dank Ippen kann Reichelt gut schlafen", wird nun - man möchte sagen Gotte sei Dank - durch die Nachricht relativiert, dass Julian Reichelt von seinen Aufgaben entbunden wurde. Was das genau bedeutet, weiß ich noch nicht, aber offenbar ist es in Zeiten des Internets einfach gar nicht mehr möglich, eine Story zu killen. Und das ist ja keine ganz schlechte Botschaft.
Und noch ein Nachtrag um 21.30. Jetzt wurde das Dossier beim Spiegel doch noch veröffentlicht. Und außerdem (inzwischen ist 23.00) erreicht uns noch ein Video dieser abstoßenden Ergebenheitsadresse. Ich dagegen stelle fest, dass ich hier vielleicht nicht mehr über ganz aktuelle Dinge schreiben sollte.
Axel Springer und das 10. Gebot
Im schnelllebigen Mediensystem der Gegenwart vollzieht sich jedes Ereignis gleichzeitig als Tragödie und als Farce. Eine Passage jedenfalls aus dem Dossier der New York Times über den Springer Verlag sorgte auf Twitter (unter anderem bei mir) nicht nur für Empörung, sondern auch für großen Spott. Dort ging es um den Vater der Bild-Zeitung, Axel Cäsar Springer, und sein offenbar bewegtes Liebesleben: "Herr Springer, der 1985 starb, hatte auch ein Privatleben, das man als bunt bezeichnen könnte. Seine dritte Frau war zuvor mit dem Nachbarn von nebenan verheiratet gewesen. Seine vierte Frau war die zweite Frau des Nachbarn." Es gibt bereits kompetente Artikel über den neuerlichen Skandal um den Springer-Verlag, aber wer steigt in den Maulwurfsbau hinab, der sich in diesen schlanken Sätzen andeutet?
Eine sehr oberflächliche Recherche bringt Berichte mit Zitaten wie diesen zum Vorschein: "Als magischen Moment beschrieb Axel Cäsar Springer viel später, wie er im Sommer 1965 das blonde Mädchen sah. Es saß in der Halle seiner Hamburger Elbvilla neben seiner vierten Ehefrau Helga, die sich - wie bereits ihre Vorgängerin - seinetwegen vom Nachbarn Alsen hatte scheiden lassen." Oder: "Springers Nachbar Horst-Herbert Alsen gab an, nicht noch einmal nach einer Frau für Herrn Springer suchen zu wollen." Eines dieser Zitate stammt übrigen aus dem Boulevard Magazin Stern, das andere aus der Qualitätszeitung SZ, ich sage aber nicht welches.
Wo ist der deutsche Tolstoi oder wenigstens der Heinrich Böll des 21. Jahrhunderts, der das aufschreibt? Zumindest wäre hier eine Netflix Serie angemessen, die diesen Sumpf aus BRD Noir und schmierigen Machenschaften über eine paar Folgen hinweg für uns dramatisiert. Es gibt ja schon eine herrlich schlecht anmutenden Springer-Film mit (wem sonst) Heiner Lauterbach in der Hauptrolle. Der Film scheint aber, wie diese Szene andeutet, vor allem den Eindruck zu vermitteln, diese Menschen hätten ein ernsthaftes Leben geführt. Das geht noch besser. Die Rubrik gute Tweets (siehe unten) beschäftigt sich heute für den Anfang nur mit den besten Tweets zum Thema "Axel Springer und die Ehefrauen des Nachbars."
Meltdown Ahoi!
Der neue Superman ist bisexuell und das bedeutet vor allem eins: Es wird öffentliche Meltdowns der vermeintlichen Fangemeinde geben. Diese Meltdowns, der ganze Zorn und das ganze Gezeter über inklusive Popkultur, gehören - ich meine das vollkommen ernst - zu den wichtigsten Quellen einer Kulturgeschichte der Gegenwart. Freund und Kollege Jonas Lübkert, dessen Newsletter zu Superhelden ich sehr empfehlen kann, schreibt dazu:
"Und weil Superman eine allen bekannte Figur ist, waren diese Woche plötzlich alle Comicexpert*innen. In Deutschland schreiben Spiegel, Stern und die Berliner Zeitung darüber. Ganz Twitter hat offenbar auch eine Meinung dazu. Erzkonservative überbieten sich in geschmacklosen Anmerkungen. Ein Kommentator von Fox News lies selbst die rechtsstehende Moderatorin sprachlos als er verkündete, Batman, Superman und Spiderman sollen den Bösewicht statt Geschlechtskrankheiten einfangen. Pro-Trump Politikerin Wendy Rogers schrieb auf Twitter: „Superman loves Louis Lane. Period. Hollywood is trying to make Superman gay and he is not. Just rename the new version Thooperman so we can all know the difference and avoid seeing it.“
Weitere Reaktionen werden in diesem Thread gesammelt. Meltdown Ahoi!

Die guten Tweets
[tweet https://twitter.com/fraeuleingebel/status/1450028134091341825]