Anarchische Nähe
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt.
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Anarchische Nähe
Wer diesen Newsletter regelmäßig liest, der weiß, dass ich großer Fan des Podcasts "The Content Mines" bin, wo jede Woche Phänomene der digitalen Kultur besprochen werden. Diese Woche beschäftigten sich die Hosts mit "structural dissonance" (Strukturelle Dissonanz) - ein extrem hilfreicher Begriff, um einen irritierenden Effekt sozialer Medien und ihrer Öffentlichkeit zu beschreiben. Es geht im Wesentlichen darum, dass in dieser Öffentlichkeit ein spezifischer Inhalt (etwa der Krieg gegen die Ukraine) auf einer Plattform vermittelt wird, die dafür eigentlich überhaupt nicht geeignet ist (TikTok z.B.). Das führt dazu, dass extrem ernste und oft schreckliche Dinge auf eine Art und Weise verarbeitet werden, die eigentlich für konstitutiv unernste Inhalte entworfen wurde. Twitter, Facebook und TikTok waren eigentlich nicht gedacht für die Vermittlung und Diskussion von Tod und Gewalt, sondern als Teil einer Unterhaltungsindustrie, deren Erfolg auf dem Eskapismus amüsanter Spielerein beruht. So kommt es, dass jetzt die Ästhetik von Vloggern und Influencern teilweise mit Ereignissen kollidiert, die zu dieser Ästhetik überhaupt nicht passen.
Strukturelle Dissonanz wird aber auch dadurch erzeugt, dass unpassende Inhalte auf den sozialen Medien ungeordnet nebeneinander stehen. Das passt zum Stichwort des "context collapse", das vor einiger Zeit in Bezug auf die geschmacklose Nähe einer Restaurant-Werbung und Bildern aus dem Krieg verwendet wurde. Die Plattformökonomie führt, wie im Podcast an einer Stelle gesagt wird dazu, dass alle Vorkommnisse zu Unterhaltung eingeebnet werden. Ereignisse, wie der Krieg werfen das Mediensystem der Gegenwart auf grundsätzliche Fragen der Angemessenheit zurück. Wann verwandelt die anarchische Nähe aller Inhalte zueinander, das Verschwimmen vollkommen unpassender Ästhetiken, die arbiträre Verteilung von Aufmerksamkeit das Mediensystem in einen moralisch grotesken Ort?
Lyrik und Krieg
Apropos Angemessenheit: In der letzten Folge der Podcast-Kooperation "Lakonisch Elegant meets 54books" haben wir darüber gesprochen, dass Menschen mit Lyrik (neuer und alter) auf den Krieg reagieren. Wie es dabei zu großer Kunst, allerdings auch zu schlimmen Unfällen kommen kann - das lässt sich hier nachhören:
Lakonisch Elegant trifft 54books - #antikriegslyrik: Mit Gedichten gegen den Krieg? | deutschlandfunkkultur.de — www.deutschlandfunkkultur.de In den sozialen Medien finden sich als Reaktionen zum Krieg in der Ukraine auch Gedichte und Prosa-Ausschnitte. Ist das die Abbildung der eigenen Position, moralische Orientierung oder Aufklärung? Was kann Antikriegslyrik dort erreichen?
Rechtsradikale Schulpolitik
In der letzten Woche habe ich mehrere Essays gelesen, die sich mit dem erbitterten Kampf befassen, der an amerikanischen Schulen seit einiger Zeit um den Geschichtsunterricht geführt wird. Es geht im wesentlichen um das Geschichtsbild, das dort vermittelt werden soll, und ob dieses Geschichtsbild auch die katastrophalen Aspekte dieser Geschichte, insbesondere Sklaverei und Rassismus, beinhalten sollte. Es handelt sich um eine Verlängerung der Debatte um das "1609 Project" in den schulischen Alltag. George Packer warnt in seinem Artikel, der leider wie so oft von einem verwaschen liberalen Neutralismus geprägt ist, davor die Schulen zu Schlachtplätzen identitätspolitischer Kämpfe zu machen. Viel interessanter ist ein Text von Jill Lepore, die die Kontroverse mit der Debatte um den "Scopes Prozess" (oder "Affenprozess") vergleicht, der 1925 recht unvermittelt das Unterrichten der Evolutionstheorie zu einem diskursiven Kampfplatz machte. In diesem spannenden und deprimierenden Text in der New Republic wiederum geht es darum, wie inzwischen rechte Eltern offen dazu aufgefordert werden, Lehrer*innen, die sich im Geschichtsunterricht mit Rassismus und Sexismus beschäftigen, zu verklagen und zu denunzieren:
"In New Hampshire hat das Bildungsministerium des Bundesstaates ein Online-Formular erstellt, um Eltern und Schüler bei der Einreichung von Beschwerden zu unterstützen. Die konservative Gruppe 'Moms for Liberty' versprach sogar, der ersten Person, die einen Lehrer in New Hampshire bei der Verletzung des neuen Gesetzes 'erwischt', 500 Dollar zu zahlen. Der neue republikanische Gouverneur Glenn Youngkin kündigte 10 Tage nach seinem Amtsantritt an, dass Virginia einen Hinweisdienst für Eltern einrichten wird, die uns Berichte und Beobachtungen über Lehrer schicken können, von denen sie glauben, dass sie sich falsch verhalten. Eine Gruppe namens Save Texas Kids, die sich dem 'Kampf gegen CRT und jede andere Form von Woke-Politik' verschrieben hat, schickte E-Mails an Lehrer in Dallas und bat um Namen von Kollegen, die CRT ('Critical Race Theory') oder 'Gender-Fluidität' fördern. Im Dezember schlug der republikanische Gouverneur von Florida, Ron DeSantis, einen Gesetzentwurf vor, der es Eltern ermöglichen würde, Schulbezirke zu verklagen, die Unterrichtseinheiten zulassen, die angeblich auf der CRT beruhen, und dafür Anwaltsgebühren zu verlangen."
Die Debatte lässt sich in die zeitgenössische Aufstiegsgeschichte des modernen Rechtsradikalismus verorten, in der mehr oder weniger nihilistische Autokraten und Entertainer auf ein aufgepeitschtes, politisch entfesseltes Publikum mit viel Zeit, vielen Ressource und wenig Selbstzweifel stoßen. Was diese Bewegung, die inzwischen die Republikanische Partei beherrscht, so erfolgreich macht, ist die Abwesenheit inhaltlicher Kohärenz und intellektueller Redlichkeit, die einem reinen fröhlich befreiten Willen zur Macht gewichen sind. So kann man dann eine Institution wie das staatliche Schulwesen, Universitäten oder die etablierten Medien mit der medial konstruierten moralischen Panik einer angeblichen linken Cancel Culture sturmreif schießen, um dann schamlos selbst Gesetze durchzusetzen, die die Meinungs- und Lehrfreiheit brutal einschränken.
Denn vor allem scheint es sich, das zeigt vor allem der Text von Lepore, auch um eine Strategie zu handeln, um das bei Rechten verhasste öffentliche Bildungssystem zu zerstören. So dient eine mehr oder weniger erfundene Debatte (über die angeblich weitverbreitete "Critical Race Theory" an Schulen) der Legitimation grundsätzlicher struktureller Veränderungen. Diese eigentlich doch sehr transparente Strategie kann sich leider nach wie vor auf die unbewusste Unterstützung einer bürgerlichen Gesellschaft verlassen, die im Gerede von einer angeblichen Gefahr für die Meinungsfreiheit durch Political Correctness ein gewisses Identifikationspotential erkennt - etwa, wenn George Packer in seinem Artikel den Kampf als eine Auseinandersetzung zwischen den kommunikationsfähigen 'Erwachsenen' und den politisierten Schreihälsen auf beiden Seiten sieht. Man hat den Eindruck, dass die Gegenwehr der bürgerlichen Gesellschaft sich viel eher auf ein paar überspannte politische Phänomene an Universitäten konzentriert, als auf den organisierten und effektiven rechtsradikalen Reformwillen. Es handelt sich um einen extrem deprimierenden Vorgang, den man genau beobachten sollte, damit er nicht, wie alle destruktiven diskursiven Spiele der Gegenwart, irgendwann auch hier Schule macht.
Im Postdigitalen Salon
Letzte Woche tobte in Leipzig die alternative Buchmessen, wo auch 54books vertreten war. Im Rahmen der Veranstaltung "Postdigitaler Salon", die in Kooperation mit der sehr spannenden Reihe "Digitale Bildkulturen" stattfinden konnte, haben sich Christina Dongowski, Wolfgang Ullrich und ich über das Reizthema "Autonomie nach der Digitalisierung" unterhalten. Die Diskussion kann man hier nachschauen:
Die guten Texte
Ein Text über ein spannendes neues Buch über irische Geschichte.
Ein Text darüber, wie die rassistische Jagd nach Spionen das Leben chinesischer Forscher*innen in den USA ruiniert.
Ein Text über das Nachleben von 12 römischen Kaisern.
Und: ein Song.