Altmodische Sexpanik
Kultur & Kontroverse ist ein Newsletter, in dem ich über kulturelle Konflikte der Gegenwart schreiben möchte. Die spannendsten Konflikte finden heute im medienübergreifenden, oft digitalen Getümmel statt. Wer sich für Streitereien und Debatten über Bücher, Filme, Musik, Serien und viele andere Dinge, die uns entzweien, interessiert, der ist hier an der richtigen Stelle.
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Der intellektuelle Gouvernantenstaat schlägt zu
Ah, wieder wurde ein Genie vom Zeitgeist der Political Correctness zu Fall gebracht, wieder eine alte Eiche im Zauberwald der Literaturgeschichte von woken Wichten einfach so gefällt. Diesmal hat es den 2007 verstorbenen Norman Mailer getroffen, dessen Band mit politischen Schriften nun nicht bei Random House erscheint, angeblich, weil ein "junior staffer" sich am Titel eines seiner berühmtesten Essays gestört haben soll. Den Bericht darüber schrieb Michael Wolff, der vor allem durch eine Trilogie boulevardesker Bücher über Trumps Zeit als Präsident berühmt geworden ist. Hier tritt er allerdings nun als feinsinniger Autor auf, der sich große Sorge um den neuen "intellectual nanny-state" macht, der einen Giganten wie Mailer aus dem Kanon löschen möchte.
Das ist eine naheliegende Haltung. Mailer erscheint fast als Musterbild eines Autors, den man posthum gegen den angeblich moralinsauren und hypersensiblen Zeitgeist der Gegenwart verteidigen muss. Er war einer jener Autoren, über die man früher ohne Ironie geschrieben hat, er sei ein "enfant terrible" des Literaturbetriebs (bzw. was heißt 'früher'.). In gewisser Hinsicht ist das auch gerechtfertigt. Mailer ist sicherlich ein Vorläufer der kulturjournalistischen Trolle, die heute mit unterschiedlichen Graden an Virtuosität die digitale Aufmerksamkeitsökonomie bespielen. Sein Sexismus etwa war so ostentativ, dass man sich die Frage stellen musste, ob er wirklich ernst gemeint war, oder nicht als karikatureske Pose vor allem wieder Unterhaltungszwecken dienen sollte. Ähnliches gilt für seinen hyperbolischen Machismo, der wie eine Parodie des trostlosen Ernstes wirkte, mit dem Hemingway dieses Rollenbild betrieben hatte (ein Beispiel ist dieses berühmte Video, wo Cynthia Ozick Mailer die Frage stellt, welche Farbe die Tinte hat, in die er seine "balls" tunkt).
Insofern erscheint Mailer tatsächlich zeitgemäß, weil er für den lauernden Humor bekannt ist, der seine Provokationen durchzog, und der vor allem die Funktion hatte, ihn von der politischen Verantwortung seiner Selbstinszenierung zu entlasten: Es war alles ein Scherz/Literatur/Pose/Genie. Dazu gehört allerdings - und auch in dieser Hinsicht ist er ein Vorbild gegenwärtiger Provokateure -, dass dieses dünne Schutzschild aus Ironie irgendwann aufbricht und die wenig überraschende Tatsache offenbar wird, dass die Rhetorik der Gewalt reale Gewalt zur Folge hat. Am 19. November 1960 attackierte Mailer seine Frau Adele Morales mit einem Messer und verletzte sie schwer.
Es handelt sich um ein bekanntes Faktum, das im Nachgang nicht zur Cancelation des Autors führte, sondern - wie mein Kollege Simon Sahner gezeigt hat - sogar in die heroisierende Mythenbildung Mailers integriert wurde. Es ist dann diese Mythenbildung, auf der das Händeringen beruht, mit dem der Poèt maudit von gestern gegen den woken Mob von heute verteidigt werden soll. Eine Person, die sich in dieser Hinsicht besonders hervorgetan hat, war Joyce Carol Oates. Aus ihrer eigentümlichen Verteidigung Mailers ist ein ziemlich absurdes digitales Dramolett entstanden, das mit diesem Tweet endete. Man kann es vorn hier aus mit ein paar Klicks rückwärts nachverfolgen:
Ein großes Rätsel ist mir im übrigen, woher Joyce Carol Oates die Zeit nimmt, sich auch noch auf Twitter zu blamieren. Ihre Produktivität und Disziplin ist berühmt. Seit 1963 hat sie laut Wikipedia annähernd 60 Romane veröffentlicht, dazu noch zahlreiche Theaterstücke, Gedichte und Essays. Empfehlen kann ich den 700-Seiten Wälzer The Accursed, den ich damals wie im Rausch gelesen habe - ein tolles Buch. Bisher war ich immer davon ausgegangen, dass diese Art der Produktivität durch digitale Askese erkauft wird, dass also der Grund, warum unsereiner nichts hinbekommt, daran liegt, dass man auf Twitter herumstreiten muss. Aber Joyce Carol Oates beschämt uns auch in dieser Hinsicht.
In Bezug auf die Absage der Mailer-Anthologie habe ich übrigens den Verdacht, dass die Bedenken des "junior staffers" vielleicht auch eine Ausrede des Verlags sein könnte, um das Buch eines Autors, der doch sehr zeitgebunden und überholt erscheint - gerade, was seine politischen Schriften angeht - nicht machen zu müssen. Ich kann mir vorstellen, dass der Verlag hier finanziell nicht auf seine Kosten gekommen wäre, sich aber erwartbaren Ärger eingehandelt hätte. So kann man den aufgebrachten Betrieb und die Erwartungshaltung der Erbengemeinschaft umgehen, indem man auf die empfindlichen jungen Leute im Verlag verweist, die dieses wichtige Erbe einfach nicht mehr pflegen wollen.
Das Buch hat natürlich inzwischen einen neuen Verlag gefunden, und es ist - of boy - der selbe Verlag, wo auch Woody Allens Autobiographie veröffentlicht wurde, nachdem sie von Hachette "gecancelt" wurde.
Houellebecq #nichtlesen
Der neue Roman von Michel Houellebecq, der den, wie ich finde, ziemlich unfreiwillig komischen Titel Vernichten trägt, ist da und wird landauf landab hymnisch besprochen, ein Ausdruck von Event-Feuilleton (halb kann man froh sein, dass die Zeitungen nicht gleich zwei oder drei Rezensionen bringen, oder am besten jeweils ein Pro/Contra). Für mich ist das eine gute Gelegenheit, um an meinen ersten Feuilletonartikel von 2019 zu erinnern, der mit einem Geständnis begann: "Ich habe den neuen Roman von Michel Houellebecq nicht gelesen, und ich werde es auch nicht tun." Das gilt natürlich auch für den aktuellen. Ich hatte damals für eine Ethik des Nichtlesens plädiert, die sich bewusst den Skandalisierungsstrategien einer bestimmten Form von Literatur entzieht, deren Reiz sich (für mich) darin erschöpft, der Gegenstand von Debatten zu werden. In der Folge wurde das dann immer mal wieder unter dem Hashtag #nichtlesen praktiziert, allerdings selten in Bezug auf Literatur, sondern um zu zeigen, dass man auf politisches Clickbait nicht hereinfallen will. Dieser Vorschlag der Verweigerung hat mir - was nun nicht ganz verwunderlich ist - auch einigen Ärger eingebracht, allerdings auch meinen absoluten Lieblingskommentar eines Lesers, der - wer möchte es ihm verübeln - davon ausging, hier würde der weltberühmte Romancier Jonathan Franzen bittere Kollegenschelte betreiben.
Zum Thema Nichtlesen gibt es inzwischen auch eine Folge des Podcasts Lakonisch Elegant, die man hier nachhören kann.
Kunstgeschichte nach meinem Geschmack
Altmodische Sexpanik
Im New York Review of Books findet sich ein Essay über das aktuelle Buch von Eva Illouz, Warum Liebe endet. Der Text lässt sich auch als Abrechnung mit einer bestimmten Art soziologischer Erklärbuch lesen. Es finden sich darin Sätze wie dieser: "Am besten versteht man dieses Buch als ein Symptom für die hart erarbeitete Selbstverachtung der Heterosexualität" ("heterosexuality’s hard-earned contempt for itself."). Die Autorin, Anahid Nersessian, kritisiert insbesondere die einseitige Perspektive auf ein spezifisches Milieu und die konservativen Aspekte der Kulturkritik, die in diesen Büchern über den Niedergang der Liebe oft mitschwingt.
"Die Soziologin Illouz, Professorin an der Hebräischen Universität Jerusalem und an der School for Advanced Studies in the Social Sciences in Paris, hat ihre Karriere damit verbracht, zu zeigen, dass es trotz aller Vorteile absolut niederschmetternd ist, weiß, wohlhabend und heterosexuell zu sein. Ihre Bücher befassen sich mit dem erotischen Leben städtischer Berufstätiger in Europa und Israel und tragen Titel wie Consuming the Romantic Utopia: Love and the Cultural Contradictions of Capitalism and Cold Intimacies: The Making of Emotional Capitalism. Trotz der Titel ist jede Ähnlichkeit mit marxistischem Gedankengut eher zufällig. Der Reiz dieses Oeuvres liegt vielmehr in der verführerischen Kombination aus linker Empfindung - der Kapitalismus ist schlecht - und guter, altmodischer Sexpanik."
Die guten Texte
Christina Dongowski schreibt auf 54books über ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt: Kunstraub. Außerdem bin ich endlich dazugekommen, diesen extrem spannenden Text zu lesen, der von den Folgen des Sturms auf das Kapitol für drei der Beteiligten erzählt ("Gina Bisignano would lose her salon, Guy Reffitt would lose his freedom, and Rosanne Boyland would lose her life."). Und im Spiegel schreibt Margarete Stokowski über den Hass im Netz.
Und: ein Song.